Der erste Unfall mit der Zukunft passiert am zweiten Tag. Dabei ist der Tag zuvor noch zur Sensation geraten: „Nürnberg“, schreibt ein Augenzeuge über jenen 7. Dezember 1835, „erwirbt sich einen neuen Ruhm in der Geschichte“. Ein anderer berichtet, dass sich eine „ungeheuere Menge Menschen aus der Nähe und Ferne“ am Morgen in der Stadt versammelt habe. Eine Kapelle spielt, der Bürgermeister spricht, sogar ein Denkmal wird enthüllt, das an die große Premiere erinnern soll. Dann steigen von der neuen Maschine mit dem hohen Schornstein „die Dampfwolken in gewaltigen Stößen“ auf. Der fahnengeschmückte Tross setzt sich in Bewegung und ist „in wenigen Augenblicken den Augen der Nachschauenden entschwunden“. Neun Minuten später erreicht er Fürth.
Die erste offizielle Eisenbahnfahrt auf deutschem Boden ist geglückt.
Die Fahrten der ersten Eisenbahn stoßen auf große Neugier: So etwas wie den Adler dürften die meisten Menschen in Nürnberg und Fürth noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen haben. Dieser Eindruck lässt sich auch von diesem historischen Gemälde ableiten. (Foto: Uwe Niklas/DB)
Doch schon am 8. Dezember holt die Gegenwart die Zukunft ein. Wie tags zuvor ist der Zug losgefahren. Nur geht beim Halten mutmaßlich das Abkoppeln schief. Die Lokomotive namens Adler schwenkt auf ein Nebengleis ein, während der übrige Zug auf der Hauptstrecke weitergleitet, eine niedrige Mauer durchbricht und ein Eisengitter niederwirft – und zwei dahinter stehende Menschen mit. Beide kommen ohne nennenswerte Verletzungen davon, heißt es in einem Artikel, der im Geschichtsmagazin des Stadtarchivs Nürnbergs erschienen ist. Auch die Waggons sind unbeschädigt. „Allerdings war nun die Nachfrage nach Prellböcken geschaffen.“
Heute weiß man: Dieser Unfall hat der Schiene nicht geschadet. Vor 190 Jahren löste der Adler eine Art Eisenbahn-Fieber aus, das noch immer das Land prägt. Auch wenn von der Euphorie selbst wenig geblieben ist angesichts der täglichen Hiobsbotschaften über unpünktliche Züge, kaputte Gleise und andere Abweichungen im Betriebsablauf.
Der erste Zug dampfte um neun Uhr ab, obwohl es im Vorfeld durchaus Schwierigkeiten gab. Bayerns König Ludwig I. zeigte sich zwar gegenüber der Technologie aufgeschlossen, die in England bereits Furore machte; als sich in Nürnberg und Fürth Geschäftsleute formierten, um Kapital für eine Eisenbahn zu sammeln, gab er der Aktiengesellschaft Segen und Namen. Doch ansonsten beteiligte sich das Königshaus kaum. Dabei war für ein Pilotprojekt die Örtlichkeit gut gewählt: Zwischen Fürth und Nürnberg herrschte bereits reger Verkehr. Und die zu bauende Schienenstrecke war nur sechs Kilometer lang, weitgehend schnurgerade und entlang einer Chaussee vom Nürnberger Plärrer zur heutigen Fürther Freiheit. Heute fährt hier parallel die U-Bahn-Linie 1.
Bayerns Erfolg ist ein englischer Import
Am Ende wurde alles teurer als die gut 130 000 Gulden, mit denen die Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft kalkuliert hatte. Als besonders große Herausforderung erwies sich die Lok: „Es gab noch keine deutschen Hersteller“, sagt Konrad Rösch am Telefon. Der pensionierte Lehrer ist einer von mehreren Gästeführern der Stadt Fürth, die sich mit der Geschichte der ersten bayerischen Eisenbahn befasst haben. Die wiederum war ein englischer Import. Die Lokomotive mussten die Verantwortlichen bei der Firma Stephenson in Newcastle einkaufen, erzählt Rösch. In mehreren Kisten, transportiert per Schiff und Fuhrwerk, kam sie nach vielen Wochen in Nürnberg an – und auch jemand, der sie zusammenbaute und die ersten Jahrzehnte lenkte: William Wilson. „Den hat man gleich mitgeliefert“, scherzt Rösch.
Das einzige bekannte Gemälde von William Wilson hängt im DB Museum Nürnberg. Der Ingenieur bediente den Adler stets in Frack und Zylinder. (Foto: DB Museum)
Allerdings wurde der Adler nur zweimal täglich eingesetzt, um 13 und 14 Uhr. Alles andere war zu teuer und zu unpraktikabel. Das Aufheizen des Kessels dauerte Stunden „und die Kohle musste von weither mit Fuhrwerken angeliefert werden“, sagt Rösch. Anfangs zogen deshalb meistens Pferde die Wagen über die Gleise.
Trotz dieser Einschränkung ist damals die Begeisterung über das neue Transportmittel groß. Zumindest bei vielen. Mancher Kutscher fürchtet um sein Geschäft und protestiert per Petition: Der Adler ist mit gut 30 Kilometer pro Stunde unterwegs, eine für damalige Verhältnisse unglaubliche Geschwindigkeit, viel schneller als jede Kutsche. Und deren Pferde scheuen mitunter beim Anblick der lärmenden Lok. Als „tragischer Einzelfall“ sticht der Tod von Vitus Popp heraus, notiert das Nürnberger Stadtarchiv in seinem Magazin. Des Bauern junge Gäule gehen durch – und er selbst erleidet „infolge der Aufregung wohl einen Herzinfarkt“.
Ein weiteres Problem: fehlendes Gefahrenverständnis für den Umgang mit schweren Maschinen. Schon vor dem Premierentag absolviert der Adler Probefahrten, bei denen sich Neugierige dem Zug nähern und „der Gefahr des Ueberfahrens so muthwillig“ aussetzen. Das Betreten der Gleise wird verboten. Bei Zuwiderhandlung drohen „die sofortige Abpfändung des Huts oder der Mütze“, eine Geldstrafe oder sogar Arrest. Dennoch geraten in den nächsten Jahren immer wieder Menschen unter die Räder.
Nach heutigen Maßstäben erscheint der Adler – hier ein Nachbau – klein und langsam. Damals aber bedeutete eine Reisegeschwindigkeit von gut 30 Kilometern pro Stunde eine enorme Beschleunigung. (Foto: Deutsche Bahn Ag/obs)
All das schmälert die Popularität der Eisenbahn nicht. 1836 kommt Ludwig I. für eine Probefahrt vorbei – und ist so begeistert, dass er für die Rückfahrt anordnet, den Adler so schnell wie möglich fahren zu lassen. Die Regierung erkennt nun das Potenzial der Eisenbahn. Nach und nach entstehen weitere Strecken, hauptsächlich im Westen des Landes. Ostbayern hingegen bleibt noch auf Jahrzehnte abgeschnitten, so etwa die Bayerwald-Gemeinde Kötzting: „Kann es, fragen wir, etwas Trostloseres geben als das Unglück zu haben, in diesem vergessenen Winkel Bayerns zu leben?“, zitiert das Historische Lexikon Bayerns aus einer Petition des Jahres 1884. Auch zahllose weitere Gemeinden wenden sich demnach mit Bittschriften um einen Bahnanschluss an den Landtag.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Eisenbahn bereits wegweisend. Wenn auch ein wenig anders als gedacht. Die Gründer der Ludwigs-Eisenbahn sahen in ihr ursprünglich ein Transportmittel, das den Handel ankurbeln sollte. Stattdessen gewinnt vor allem die Industrialisierung an Fahrt. An immer mehr Orten wachsen Fabriken in die Höhe, glühen die Hochöfen und dröhnen die Hämmer. Auch der Bergbau erreicht neue Dimensionen. Später entsteht dann eine weitere Branche: der Tourismus. Die Bahn bringt Großstadtgeplagte erstmals massenhaft aufs Land.
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Bis 1912 wachsen die Gleise im Königreich auf mehr als 8400 Kilometer Länge an. Heute misst die Schieneninfrastruktur im Freistaat gut 6600 Kilometer. Und die Begeisterung von damals wirkt nicht nur sprichwörtlich wie aus einer anderen Zeit. Zu stark hat das System gelitten, an Akzeptanz und Substanz. Das Netz gilt als marode, überlastet und unterfinanziert. Immer wieder bringen Bauarbeiten und andere Probleme erst den Fahrplan durcheinander und dann Passagiere zur Weißglut. Bahnunternehmen schimpfen, so sei ein Betrieb kaum noch möglich. Besserung ist so schnell nicht in Sicht: Der Sanierungsstau ist gewaltig.
Über die erste Eisenbahn rollt die Zeit hinweg
Auch über die Ludwigs-Eisenbahn geht die Zeit hinweg. Ihre Spurweite von 1435 Millimetern wird zwar auch hierzulande zum Standard. Trotzdem bleibt ihr ein Anschluss ans wachsende Schienennetz verwehrt – auch, weil die Nürnberger den Fürthern eins auswischen wollen und den Bau einer Strecke unterstützen, die den Nachbarn umgeht. Als zwischen beiden Städten eine Straßenbahn mit mehreren Haltestellen eingerichtet wird, folgt das endgültige Aus. 1922 stellt die Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft den Betrieb ein. Später werden ihre Bahnhöfe und Maschinenhallen abgerissen. Den Adler gibt es da schon lang nicht mehr, vermutlich wurde er verschrottet.
Von der Eisenbahn, die so viel ins Rollen gebracht hat, ist deshalb heute kaum etwas zu sehen. Zu dem Wenigen gehören zwei Nachbauten des Adlers im Nürnberger DB Museum, einer davon fahrtüchtig – und ein Lokschuppen in der Nähe der U-Bahn-Station Stadtgrenze, etwas versteckt zwischen Gleisanlagen. Sein Dach ist eingestürzt, die Sanierung angestoßen. Dem mutmaßlich ältesten Lokschuppens Deutschlands ist es nicht besser ergangen als dem übrigen Schienennetz.
Konrad Rösch spürt der ersten Bahnstrecke Bayerns und Deutschlands regelmäßig nach. Zum Jubiläum am 7. Dezember gibt es in Fürth Stadtführungen: Sie folgen der alten Trasse, beginnend an der U-Bahn-Haltestelle Jakobinenstraße, die Königswarterstraße entlang bis zur Fürther Freiheit. Denn die Ludwigs-Eisenbahn war laut Rösch ein „riesiger Erfolg“. Und lange hochprofitabel: Eine Dividende von gut zwölf Prozent hatte die Gesellschaft ihren Aktionären ursprünglich versprochen – und schüttete in den ersten Jahren um die 20 Prozent aus. Das neue Transportmittel erfreute sich von Anfang an großer Beliebtheit, vor allem bei Pendlern, sagt Rösch. „Da haben Fürth und Nürnberg einmal wirklich gut zusammengearbeitet.“
Mehr über die Führungen in Fürth zur Ludwigs-Eisenbahn gibt es bei der Touristinformation der Stadt. In Nürnberg richtet das DB Museum am Samstag, 13. Dezember, nachträglich einen „Adlergeburtstag“ aus.
