Es ist 13.21 Uhr, als die zuletzt aufgekommenen Zweifel an seiner weiteren Kanzlerschaft fürs Erste ausgeräumt werden. Die Kanzlermehrheit für das Rentenpaket ist da – so, wie er es wollte.
Wie Friedrich Merz reagiert, bleibt erst einmal unklar. Jedenfalls sind unter den Steinen, die Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow (Linke) bei der Verkündung von vielen Herzen fallen gehört haben will, keine vom Kanzler dabei. Er ist nämlich gar nicht mehr im Saal.
Erst gut eineinhalb Stunden später wird sich der Kanzler äußern. Allein im Kanzleramt, was nicht einer gewissen Symbolik entbehrt. Es fällt jedoch auch dann kein persönliches Wort der Erleichterung, schon gar nicht der Selbstkritik. Friedrich Merz versucht eher den Eindruck eines „business as usual“ zu vermitteln.
Gerade nochmal gutgegangen: Finanzminister Lars Klingbeil und Bundeskanzler Friedrich zeigten sich vor der Abstimmung am Freitag zuversichtlich.
© dpa/Kay Nietfeld
Merz erneuert das Reformversprechen
Er bedankt sich „für die Intensität der Auseinandersetzung“ der vergangenen Wochen, die allen vor Augen geführt habe, „welche wegweisenden Entscheidungen noch vor uns stehen. Darauf bezieht sich auch sein Versprechen, dass er es ernst meint mit der Rentenreform 2 im nächsten Jahr: „Das ist nicht das Ende unserer Rentenpolitik, sondern erst der Anfang.“
Die ganze Rentendebatte, der Abstimmung vorgeschaltet, hat sich der Kanzler gar nicht angeschaut. Der Platz neben SPD-Vizekanzler Lars Klingbeil auf der Regierungsbank ist noch leer, als der erste Redebeitrag um 11:22 Uhr beginnt und kurz darauf die ersten Abgeordneten der Jungen Gruppe hinterm Pult der Bundestagspräsidentschaft auftauchen.
Sie geben persönliche Erklärungen ab – ein frühes Indiz dafür, dass mindestens einige von ihnen darlegen wollen, warum sie doch auf Kanzlerlinie einschwenken. Ein weiteres ist die Klarheit, mit der Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann betont, man werde sich bei der Abstimmung nicht von anderen abhängig machen, „Punkt“. Die Linkspartei hatte im Vorfeld Enthaltung angekündigt und eine einfache Mehrheit für die Renten-Haltelinie sehr wahrscheinlich gemacht.
Wo bitte ist die Lernkurve?
Eine Unionsabgeordnete über den Kanzler
Friedrich Merz dürfte sich freuen, wie sich die oppositionellen Grünen und Linken in der Debatte zerlegen. Aber er verpasst die gegenseitigen Vorwürfe der „Scheinheiligkeit“, weil beide eine viel längere Rentenhaltelinie fordern, aber unterschiedlich abstimmen. Er ist immer noch nicht da.
Der Kanzler erklärt im Kanzleramt noch seine Außenpolitik. Er hat noch internationale Korrespondenten aus Brüssel zu Gast. Das ist zwar ein schon lange geplanter Termin, die Abwesenheit damit erklärlich. Aber natürlich passt es in die zunehmende „Außenkanzler“-Kritik auch aus den eigenen Reihen. „Er ist mit dem Kopf woanders“, sagt eine Unionsabgeordnete.
Mehr Russland als Rente im Kopf
Das mag schon sein. Die Weltlage ist ernst, die Ukraine, die aus Sicht von Merz auch Europas und Deutschlands Freiheit verteidigt, steht militärisch unter gewaltigem Druck. Die EU will zusätzliche Milliarden auftreiben, um Kiew weiter gegen Wladimir Putins Aggression zu wappnen. Auf den Vorschlag von Merz hin soll dafür nun eingefrorenes russisches Vermögen eingesetzt werden, und weil Belgien, wo das meiste davon lagert, große Bedenken hat, trifft sich der Kanzler am Abend noch mit Ministerpräsident Bart De Wever in Brüssel.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann am Freitag im Bundestag.
© IMAGO//Florian Gaertner
CDU-Generalsekretär Linnemann hat derweil klargemacht, worum es für Merz geht, nämlich um viel. Schließlich fordert er nicht nur „ein starkes Mandat für dieses Paket“ und „für diese Koalition“, sondern auch „ein starkes Mandat für den Bundeskanzler“. Bei den Grünen ist von einer „indirekten Vertrauensfrage“ die Rede, die er bestehen müsse. Der Kanzler hat sich am Vorabend auch selbst „zwischen 316 und 328“ Stimmen gewünscht – eine Kanzlermehrheit also nicht nur der Anwesenden, sondern unter allen insgesamt 630 Abgeordneten.
Die einen halten das für eine starke Ansage voller Selbstvertrauen. Hat ja auch geklappt mit 318 von 328 Koalitionsabgeordneten, die für das Paket gestimmt haben. Andere Christdemokraten rufen nur wieder ein Schlagwort in Erinnerung, das sie im Zusammenhang mit dem Kanzler immer mehr umtreibt, sein „Erwartungsmanagement“. Wieder hat er etwas angekündigt, an dem er danach gemessen wird, erneut die Latte hochgelegt und die Gefahr erhöht, sie zu reißen.
Der Vertrauensvorschuss ist vorbei, jetzt müssen Reformen kommen.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Christian von Stetten
In der Fraktion haben sie mittlerweile endlos Beispiele dieser Art gesammelt. Aus dem Wahlkampf natürlich, als ultimativ gegen neue Schulden gewettert und das Ende jedweder linker Politik verkündet wurde – worauf ein riesiges Sondervermögen in einer Koalition mit der SPD folgte.
Dann kam der „Herbst der Reformen“, der bisher fast nur umkämpftes Abarbeiten bereits geeinter Projekte aus dem Koalitionsvertrag beinhaltete. Und erst letzte Woche kündigte Friedrich Merz nach dem Koalitionsausschuss an, die geplante Großreform der Rente werde binnen Jahresfrist verabschiedet. „Wo bitte“, fragt ein Fraktionsmitglied, „ist die Lernkurve?“
Der 70-Jährige mit nun mehr 213 Tagen im Amt betritt um 12:13 Uhr das Plenum, setzt sich und wechselt ein paar Takte mit Klingbeil. Große Gefühlsregungen sind nicht auszumachen. Ohne eine Miene zu verziehen, lauscht Friedrich Merz auch Pascal Reddig, dem Vorsitzenden der Jungen Gruppe, der „unverbindliche Reformversprechen“ als Grund dafür nennt, dass er trotz aller politischen Bearbeitung in den vergangenen Tagen beim Nein bleibt.
Fraktionschef Jens Spahn am Freitag nach der Abstimmung im Bundestag.
© REUTERS/LIESA JOHANNSSEN
Den warmen Applaus muss Merz gehört haben. Viele in der Fraktion folgen ihm nur mit der Faust in der Tasche.
In der vorbereitenden Fraktionssitzung am vergangenen Dienstag wurde das besonders deutlich. Nicht nur, dass dort noch viel mehr Nein-Stimmen gezählt wurden als schlussendlich in den Wahlurnen des Bundestags gelandet sind. Mehrere Redner, darunter auch Christian von Stetten, der Vorsitzende des einflussreichen Parlamentskreises Mittelstand, machten zudem klar, dass sie dieses Mal noch mitstimmen würden, ohne einen echten Politikwechsel aber nicht mehr.
„Der Vertrauensvorschuss ist vorbei“, sagt von Stetten dem Tagesspiegel, als er gerade seine Stimme abgegeben hat, „jetzt müssen Reformen kommen.“ Deutlicher geht es kaum an die Adresse der eigenen Regierung und des eigenen Kanzlers.
Sein Fraktionschef kündigt Manöverkritik an
Fraktionschef Jens Spahn, der die verlangte Kanzlermehrheit geliefert hat in zahllosen Einzelgesprächen und einer Junge-Gruppentherapie bei sich zuhause mit Pizza und Wein, kündigt schon kurz nach dem Votum eine „Manöverkritik“ an. Der sozialpolitische Sprecher Marc Biadacz meint: „Wir müssen uns insgesamt alle besser abstimmen.“ Das meint auch Merz.
Viele in der Union, auch weiter oben, sind überzeugt, dass der Kanzler sie überhaupt erst in diese Lage gebracht hat. Sie kreiden ihm an, dass das Thema der Renten-Haltelinie überhaupt nur diese Wucht entfalten konnte, weil er über viele Wochen den Eindruck vermittelte, über den Gesetzentwurf könne in der Koalition noch geredet werden und er stehe dabei an der Seite der Jungen Gruppe. Die hat seitenweise passende Zitate von Merz dazu gesammelt.
So kam es erst zum wirschen Auftritt beim Deutschlandtag der Jungen Union vor drei Wochen, dann zu dem in der Fraktion am vergangenen Dienstag, den viele Unionsabgeordnete als unangenehm empfanden. Als Merz sagte, er sehe, wer wann klatsche.
Warum hat Merz nicht einfach mal zum Telefonhörer gegriffen und die Junge Gruppe eingebunden, fragt sich ein Angeordneter. Ein anderer erinnert sich daran, wie Vorvorgängerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise ganz genau darüber im Bilde war, wer ihren Kurs kritisch sieht. „Man bekommt das Gefühl, dass Friedrich Merz gar nicht mitbekommen will, was sich über ihm zusammenbraut.“
Als Beispiel für seinen wenig nahbaren Führungsstil wird ein Gegenbeispiel genannt: „Alexander Dobrindt geht durch die Reihen, begrüßt viele per Handschlag.“ Viele in der Fraktion hätten noch nie einen bekommen von ihrem Kanzler.
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Die AfD-Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing streut Salz in die Wunde, als sie fragt: „Da muss doch irgendwo eine Schmerzgrenze sein?“ Innerlich haben viele Angeordnete von CDU und CSU sie bereits gezogen – weshalb Friedrich Merz an diesem Freitag eben nicht nur gewonnen, sondern auch verloren hat.