Leipzig. Das Telefon klingelt. Mitten in der Nacht. Bettina Gruber (Name von der Redaktion geändert) nimmt den Hörer ab. Wer am anderen Ende der Leitung sitzt, weiß sie nicht. Nur so viel: Wahrscheinlich kämpft die anrufende Person mit einem Problem. „Hallo, hier ist die Telefonseelsorge“, meldet sich die 67-Jährige. Ihre Telefonstimme klingt ein paar Töne tiefer als im Alltag, wie sie berichtet: „So tief, dass ich schon mal gefragt wurde, ob ich ein Mann oder eine Frau sei.“ Das ist aber eigentlich auch egal: Die Telefonseelsorge funktioniert ohnehin anonym.

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Rund um die Uhr ist die Nummer der Telefonseelsorge bundesweit erreichbar. Kostenlos für alle – auch an Feiertagen und nachts. „Immer“, bekräftigt Tina Freitag, die Leiterin der ökumenischen Telefonseelsorge der Diakonie in Leipzig. Sie betont: Das Angebot ist zwar christlich, wird überwiegend durch die katholischen und evangelischen Landeskirchen finanziert, ist aber für alle da, unabhängig von der Religion.

Anrufer oft in psychischen Notlagen

Die durchgehende Erreichbarkeit der Telefonseelsorge machen Ehrenamtliche wie Bettina Gruber möglich. Bundesweit sind es fast 8000 Freiwillige. In Leipzig engagieren sich aktuell 72, wie Tina Freitag berichtet. Wer die Nummern der Telefonseelsorge wählt – es sind die 0800 1110111 oder die 0800 1110222, wird automatisch an die besetzten Stellen verteilt, landet vielleicht an Bettina Grubers Hörer in Leipzig.

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Sie sitzt in einem wohnlich eingerichteten Apartment in der Stadt: Teppich vor dem Schreibtisch, ein kleines Sofa in der Ecke, Bücher im Holzregal an der Wand. Der Standort muss zum Schutz der Ehrenamtlichen jedoch geheim bleiben. Auch Bettina Gruber heißt eigentlich anders. Die 67-Jährige will aber anonym bleiben. Sie sei am Telefon auch schon bedroht worden. Nicht selten rufen bei ihr Menschen an, die sich in akuten psychischen Notlagen befinden.

Vierstündige Dienste am Telefonhörer

Depressionen, Suizidgedanken, Einsamkeit, Ausweglosigkeit: Die Themen, die die Anrufenden beschäftigen, hängen meist mit persönlichen Krisen zusammen. „Das hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert“, weiß Bettina Gruber. Sie hat vor 20 Jahren bereits ehrenamtlich die Ausbildung zur Telefonseelsorgerin absolviert. Seit sie vor zwei Jahren in Rente gegangen ist, engagiert sie sich wieder aktiv im Ehrenamt. Bettina Gruber übernimmt rund zehn bis 20 Stunden im Monat die vierstündigen Dienste am Telefonhörer. Mit vier bis neun Anrufenden spricht sie in dieser Zeit im Schnitt.

Es ist wichtig, dass die Ehrenamtlichen nach belastenden und kräftezehrenden Gesprächen am Telefon einen Wohlfühlort haben, in dem sie sich wieder stärken können.

Tina Freitag

Leiterin der ökumenischen Telefonseelsorge der Diakonie in Leipzig

Tina Freitag würde die Räume und damit das Umfeld, in denen die Ehrenamtlichen oft kräftezehrend arbeiten, gern schöner gestalten. Die gelernte Sozialarbeiterin und Supervisorin hat selbst schon Dienste am Telefon übernommen und weiß, wie intensiv die Gespräche werden können. „Deshalb ist es wichtig, dass sich die Ehrenamtlichen an ihrem Arbeitsort wohl und sicher fühlen und auch nach belastenden und kräftezehrenden Gesprächen am Telefon einen Wohlfühlort haben, in dem sie sich wieder stärken können“, erklärt sie.

„Der Bedarf ist größer, als wir ihn decken können“: Tina Freitag leitet die ökumenische Telefonseelsorge der Diakonie in Leipzig.

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Arbeit bis an die Grenzen der Belastbarkeit

Hier möchte die LVZ-Spendenaktion „Ein Licht im Advent helfen“: Mit den Spenden der Leserinnen und Leser sollen die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge verbessert werden – auch, damit das Angebot weiter erhalten oder vielleicht auch erweitert werden kann.

Denn die Arbeit geht auch für die geschulten ehrenamtlichen Helfer oft an die Grenzen der Belastbarkeit. „Viel Negativität, ganz viel Negativität“, berichtet Bettina Gruber aus ihrem Alltag. Die Menschen sprechen mit ihr über alles, was ihnen auf dem Herzen liegt. Insbesondere Einsamkeit sei ein immer größer werdendes Problem, das viele tangiert – nicht nur ältere Menschen, wie Tina Freitag berichtet.

Gespräche drehen sich oft um Einsamkeit

Die Zahlen der Telefonseelsorge bestätigen sie: Im Jahr 2022 haben 1.010.214 Seelsorge- und Beratungsgespräche stattgefunden, im vorigen Jahr stieg die Zahl auf über 1,3 Millionen. „Der Bedarf ist größer, als wir ihn decken können“, sagt Tina Freitag. In der Jahresstatistik heißt es: „Das Thema Einsamkeit bleibt am Telefon Spitzenreiter bei den Nennungen. Seit der Corona-Pandemie wird das Leiden daran in jedem vierten Gespräch thematisiert.“ Speziell jetzt, wenn die Tage kürzer werden, es draußen kalt und grau ist, und die Feiertage anstehen, plagt die Einsamkeit. „Es geht uns in unserer Gesellschaft vielleicht wirtschaftlich gut“, erzählt Bettina Gruber, „aber der Seele geht es überhaupt nicht gut“, weiß sie aus ihrem Ehrenamtsalltag.

Die LVZ-Spendenaktion „Ein Licht im Advent helfen“: Mit den Spenden der Leserinnen und Leser sollen die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge verbessert werden.

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Sie hört am Telefon Lebensgeschichten über zerbrochene familiäre Beziehungen, über Missbrauch, der schon im jungen Alter begann, über den Plan, das eigene Leben bald zu beenden. All das geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei. „Diese verdammte Gesellschaft“, platzt es aus der sonst so ruhigen Bettina Gruber auch mal heraus.

Hilfe durch die LVZ-Spendenaktion „Ein Licht im Advent helfen“: Die Bedingungen für die Mitarbeiter der Telefonseelsorge in Leipzig sollen verbessert werden.Zuhören, aber nicht bewerten

Sie nimmt sich am Telefon bis zu einer Stunde Zeit, um den Anrufenden zuzuhören. „Wirklich zuhören, nicht bewerten“, erklärt sie. Wenn es passt, versucht sie, geeignete Hilfsangebote aufzuzeigen. Aber die gelernte Sozialarbeiterin weiß: Das deutsche Hilfesystem ist überlastet. „Mit unserem Angebot schließen wir zumindest ein paar Lücken“, so Bettina Gruber. Aber auch das ist begrenzt. „Wir dürfen nicht den Anspruch haben, alle Probleme zu lösen“, weiß die 67-Jährige. Schon allein deshalb nicht, weil sie sich distanzieren muss, um die gehörten Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen.

Wie funktioniert das bei all der Negativität? „Sich bewusst sein: Ich kann die Welt für die Anrufenden nicht retten, aber ich kann für sie da sein“, hat Bettina Gruber für sich festgelegt. Am Ende ihres Dienstes zieht sie die Brandschutztür des Apartments hinter sich zu. Laut fällt diese ins Schloss. „So ein ganz spezielles Geräusch ist das“, beschreibt Bettina Gruber. Mit dem Geräusch lässt sie die Probleme am Arbeitsort, geht möglichst unbeschwert nach Hause. Bettina Gruber weiß, geholfen zu haben, etwas Sinnvolles getan zu haben: „Ich bin nicht die Retterin“, fügt sie hinzu. „Ich bin einfach da.“

LVZ