Kiel. Er ist der Mann, fast schon die Legende, die Capoeira nach Europa gebracht hat. Eine tänzerisch, akrobatische Kampfsportart aus der Kolonialzeit in Brasilien. Durch den Kampftanz schulten sich viele afrikanische Sklaven im Nahkampf, um fliehen oder Aufstände anzetteln zu können. 1890 wurde der Sport daher sogar verboten. In Deutschland ist der getanzte Kampfsport mittlerweile weit verbreitet. Dank Paulo Siqueira. Was brachte den Brasilianer dazu, auszuwandern und Schulen wie etwa in Kiel zu gründen?
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Kampfsport ohne Berührungen – wie geht das funktioniert, zeigt Paulo Siqueira in Hamburg. Paare tanzen umeinander herum. Ihre Hände tippen rhythmisch auf den Boden. Dann ein Tritt, der Partner bückt sich, weicht über den Boden aus. Beide drehen sich gekonnt umeinander herum, verfallen dann wieder in den Grundschritt. „Mit der Musik, nicht gegen die Musik“, ruft Siqueira.
Dann ein seitlicher Handstand, die Füße schweben in der Luft, der Körper lehnt nur auf dem Ellenbogen. Spannung. Eine Drehung zu schnell angesetzt, zack, fällt dem Capoeira-Mann die Brille von der Nase. Schnell ist sie wieder aufgesetzt und es folgt der nächste Tritt. Siqueira spannt seinen Körper ins Hohlkreuz, um auszuweichen. Nur wenige Zentimeter trennen die Fußspitze von seiner Brust.
So brachte Siqueira Capoeira nach Deutschland
Schon als kleiner Junge begann Paulo Siqueira mit dem afrobrasilianischen Kampftanz. „In Brasilien war das damals viel einfacher und günstiger, als andere Sportarten auszuüben“, erklärt der 70-Jährige. Doch der Weg zum Meister dauere oft 15 bis 20 Jahre, entsprechend gefragt ist so ein Mestre. „Capoeira ist wie mein Arm. Es ist ein Teil von mir und es ist immer da“, sagt er und grinst zufrieden.
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Siqueira reiste durch halb Europa, gab Lehrgänge in Schweden, Frankreich oder Norwegen. Dann reiste ein Hannoveraner zu Siqueira nach Brasilien, mit der Bitte, in Deutschland sein Wissen weiterzugeben. Mit nur 25 Jahren wanderte der Mestre 1980 nach Deutschland aus, um Capoeira zu unterrichten. „Als Künstler hat man hier mehr Möglichkeiten. Ich wollte richtig Gas geben“, sagt er und ballt beide Fäuste. So gründete Paulo Siqueira vier Schulen in Hannover, Hamburg, Bremen und schließlich auch in Kiel.
Capoeira-Mestre Paulo Siqueira: „Ich bin Künstler“
Angst, sein Leben zurückzulassen, hatte er nicht. „Ich war sehr jung, bin in einer Familie aus der Künstlerbranche aufgewachsen, hatte bereits in der Szene gearbeitet und kannte es nur so“, erzählt der Brasilianer. So machte Siqueira viel Musik, spielte in einer Band und nahm eine Vinyl-Platte für Capoeira auf. „Meine Mutter ermutigte mich und sagte: Es ist schwer, aber du weißt, wie es geht.“
Konkurrenz hatte er damals in Deutschland noch nicht. „Niemand kannte Capoeira, es ist eine andere Sprache und ungewohnte Musik. Das war eine schwierige Zeit. Doch ich habe es geschafft“, sagt Paulo Siqueira. Schnell waren seine Kurse voll. „Es war ein neues Territorium, die Menschen waren neugierig, hatten oft falsche Vorstellungen. Eine Frau kam damals und wollte mit einem Tuch über dem Kopf tanzen. Das war toll, aber eben nicht Capoeira“, erzählt er und lacht sein tiefes, sympathisches Lachen. Auch Trainer bildete er aus. Doch für viele sei es schwierig, von Capoeira zu leben.

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„Capoeira ist ein wichtiger Teil meines Lebens“
Siqueira steht vor der Gruppe, murmelt Anweisungen, macht eine Dehnübung vor. Und beweist: Auch mit 70 kann man noch gelenkig sein. „Es ist alles dabei: Pilates, Yoga, Kraft und Ausdauer“, sagt er. Der musikalische Part sei für viele eine Schwierigkeit. Man müsse eine eigene Körpersprache entwickeln, lernen, wie Bewegungen angesetzt werden. „Ohne Musik gibt’s kein Capoeira, deshalb dauert das Lernen etwas“, sagt er und greift zum Berimbau, einem Musikbogen, dem Hauptmelodieinstrument, das beim Capoeira den Rhythmus vorgibt.
Das lange Gestell in der linken Hand, die hölzerne Kugel vor dem Bauch. Zwischen dem gebogenen Holz und der Saite ist eine dicke Münze gespannt. Eine Rassel in der rechten Hand haltend klopft einer von Siqueiras Schülern mit einem Stäbchen auf die Saite und es entstehen charakteristische Töne, die sich zu einer Melodie zusammenfügen. Das Training erinnert nun an eine Musikstunde. „Der Rhythmus ist klar, aber es ist noch nicht sauber“, korrigiert der Mestre seinen Schüler und zeigt ihm, wie er seine Technik anpassen kann. Auch zwei Trommeln kommen zum Einsatz, machen die Melodien noch lebendiger.
Ohne Capoeira kann ich nicht leben.
Paulo Siqueira
Mestre der Kampfsportart aus Brasilien
Laut Paulo Siqueira diene der Sport auch der Gesundheit. „Der Körper ist mein Kapital. Man muss ihn gut und moderat behandeln“, sagt der Vater von fünf Kindern. „Entweder mache ich viel Capoeira und muss selten zur Apotheke oder es ist genau umgekehrt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch“, sagt er und rückt zum wiederholten Mal energisch seine schwarze Mütze zurecht.
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Nebenbei schreibt Paulo Siqueira ein Buch über seine Lebensgeschichte. „Ich habe fast alles erreicht, was ich machen wollte. Einige Etappen in meinem Leben waren viel Rambazamba. Verstehst du?“, fragt er immer wieder mit starkem portugiesischem Akzent. „Jetzt geht es langsam eher um Ruhe und meine Gesundheit. Doch Capoeira bleibt. Ohne Capoeira kann ich nicht leben.“
KN