Dresden. Verfasst ist der Brief unmittelbar danach. „Hannah saß noch in dem Stuhl, in dem sie etwa eine Stunde vorher den tödlichen Herzanfall erlitten hatte“ – mitten im Gespräch mit Freunden, heißt es darin. Hans Jonas hat ihn im Dezember 1975 aus New York an Martin Heidegger geschrieben. Der deutsch-amerikanische Philosoph erstattet ihm Bericht vom Ende Hannah Arendts, die 1906 in Linden (Hannover) geboren wurde, 1924 bei Heidegger in Marburg studierte, eine der bekanntesten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts.
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Gebannt schauen die etwa 200 Zuhörer im ausverkauften Marta-Fraenkel-Saal des Dresdner Hygiene-Museums auf die Leinwand. Thomas Meyer, Münchner Philosophieprofessor, Arendt-Biograf und Herausgeber ihrer Werke im Piper-Verlag, zeigt den Brief an diesem Abend, dem 50. Todestag der politischen Theoretikerin, zum ersten Mal. Ihre Vorfahren entstammten dem ostpreußischen Landjudentum und lebten säkular. „Sie wächst in gutbürgerlichem, gebildeten Milieu auf.“
Dieses Buch warf einen Stein in den See des Schweigens.
Arendt-Biograf Thomas Meyer über „The Origins of Totalitarianism“, 1951
1933 bescheinigt ihr Arnold Zweig in einem Empfehlungsschreiben, sie habe „das eigentümliche Wesen des modernen Antisemitismus besonders klar erfasst“.
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An weiteren Dokumenten zeigt Meyer, wie für die Denkerin im französischen Exil die „praktische Arbeit“ in den Vordergrund rückte. Tätig war sie für die „Kinder- und Jugend-Aliyah“, eine Organisation, die junge Leute in Landwirtschaft und Handwerk ausbildet, damit sie sich anschließend in Palästina ansiedeln.

Sie verstehe sehr genau die Herausforderungen ihrer Zeit, verfasse keine langen Reden, sondern handle. „Es wird das Handeln sein, das sie in ihrer Philosophie in den Mittelpunkt des Nachdenkens stellt. Handeln, das aus der Pluralität des Menschseins erwächst, aus gegenseitiger Verantwortung, weil wir niemals alleine sind.“ Die Möglichkeit, handeln zu können, sei für sie Ausdruck unserer Freiheit. Auch mit dem Risiko, nicht genau zu wissen, was dieses Handeln bedeute. Über Lissabon gelingt ihr die Flucht in die USA.
Meyer schaut ins Auditorium. Ob man möglicherweise eine ganz andere Hannah Arendt erwartet habe? „Den Erwartungshaltungen nicht zu entsprechen, das war genau meine Idee.“ Denn, so betont er: „Hannah Arendt ist eine vielfältige Person.“ Sie habe ihre Gegenwart in deren radikaler Veränderung angenommen und darauf reagiert.
Arendt erhielt 1959 den Lessing-Preis
In ihrer Rede zur Verleihung des Lessing-Preises hat sie 1959 „von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ gesprochen, eine Form der Wahrnehmung, beschrieben mit drei Begriffen: Freiheit, Verantwortung, Pluralität.
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Zuvor erforschte sie die Möglichkeiten des Totalitarismus, der Menschen erschuf, die ihre Selbstwahrnehmung durch eine aufgezwungene Wirklichkeit ersetzten. „Wenn das möglich ist, dann muss eine künftige politische Philosophie an die widerständigen Kräfte des Menschen erinnern, damit solche totalitären Zumutungen nicht mehr entstehen können.“
Mit der Vernichtung des europäischen Judentums hatte sich für sie ein Abgrund geöffnet. Dieses einmal Geschehene, fürchtete sie, könne wieder geschehen. Beschrieben hat sie das 1951 in „The Origins of Totalitarianism“. „Dieses Buch war abgrundtief schwarz“, sagt Meyer. 1955 erschien es in Deutschland unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. „Dieses Buch warf einen Stein in den See des Schweigens.“
Arendt als „Aufmerksamkeitslenkerin“
Hier zeigte sie sich als die bekannte Denkerin. Er aber, so Meyer, habe jene Person vorstellen wollen, „die Voraussetzung ist für die Hannah Arendt, die Sie aus Film, Funk und Fernsehen kennen“.
Lasse sich aus der Lektüre der Theoretikerin etwas für heute lernen?, fragte Moderator Jörg Ganzenmüller. Es war der erste Auftritt des 1969 in Augsburg geborenen Historikers als neuer Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT).
„Ich habe Bauchschmerzen angesichts dieser Schlag-nach-bei-Hannah-Bewegungen“, entgegnete Thomas Meyer. Ihre Widersprüche seien enorm. Ohne sie lasse sich die widersprüchliche Welt nicht analysieren. Immer jedoch habe sie nach den Entstehungsbedingungen geschaut. „Sie ist eher eine Aufmerksamkeitslenkerin.“
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Thomas Meyer: „Hannah Arendt. Die Denkerin des 20. Jahrhunderts“. C. H. Beck. 127 S., 12 Euro
DNN