Dresden. Musik heutzutage ist fünf Prozent Talent, fünf Prozent Können, fünf Prozent Handwerk und – bei wie viel Prozent sind wir jetzt? Egal: Der Rest ist Marketing. Nun gut, vermutlich ist das ein wenig arg pessimistisch, ansonsten hätte er nicht vor der Pandemie die Tonne an zwei Abenden hintereinander gefüllt und wäre das aktuelle Konzert von Paul Millns in der Tante Ju nicht so gut besucht gewesen. Aber eigentlich müsste dieser Mann mindestens den Kulturpalast komplett ausverkaufen. Und zwar Sekunden, nachdem der Auftritt angekündigt ist.
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Hier kommt das Marketing ins Spiel. Denn wenn jemand unter „Bluespianist“ einsortiert wird, dann horcht (leider!) oft nur eine kleine Gruppe auf. Würde der Mann aus Norfolk jedoch als der grandiose Sänger und Songwriter vermarktet, der er ist, nun: siehe oben.
We won’t stay long
Zeile aus dem Millns-Song „Home for the weekend“
Denn Paul Millns, der in diesem Jahr 80 gewordene, kleine, zierliche Herr mit den weißen Haarbüscheln, spielt natürlich ein überaus exzellentes Klavier. Schon mit den Tasten und den Pedalen zaubert er aber ebenso andere Klänge. Da ist viel Boogie-Woogie dabei, Ragtime, auch Rockiges, ebenso Jazz, Soul und schlicht wunderschöne Melodien. Wiederholt kommt einem während des wundervollen Abends, was das Klavierspiel angeht, der verstorbene Joe Sample in den Sinn. Aber auch eine typische Tom-Waits-Stimmung wird da mitunter erzeugt. Dazu kommen dann die Texte, kleine, exakt beobachtete Geschichten, fast immer mit einer feinen, typisch britischen Ironie, aber auch mit viel Liebe. Vorgetragen mit einer Stimme, die zwar manchmal bluesig-rau klingt, häufiger aber sauber, durchaus noch stattliche Höhen erklimmend, berührend. Das Englisch, in dem Millns singt und wohlformulierte Zwischentexte spricht, ist so perfekt prononciert, dass man niederknien möchte.
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Seit knapp 60 Jahren macht Millns Musik, ging als junger Mann nach London, wo im Kreis um Alexis Korner gerade der Blues das Baby Rock’n‘Roll bekam. Und der junge Millns stand mit allen auf der Bühne. Entsprechend gut passt er als Erzählstimme im Song „Home for the Weekend“, den er den saisonalen TV-Bildern von glücklichen Familien entgegensetzen möchte (danke dafür!). Darin geht es um einen jungen Mann, der in die große Stadt gezogen ist, sich aber notgedrungen an einem Wochenende gemeinsam mit der mitgebrachten Freundin wieder mit seinem Dorf, seinen Eltern, seiner Erinnerung arrangieren muss. „We won’t stay long“ (Wir bleiben nicht lange) ist da der einzige Trost …

Ja, Paul Millns ist altersweise, aber nicht altersmilde. Seit mehr als 50 Jahren schreibt er seine eigenen Songs, geschult an den Besten der Zunft – aber alles, was er an dem Abend in der Tante Ju zum Besten gab, leuchtete aus sich heraus, trug seine ganz eigene Handschrift. Den Song „Calling all Clowns“ leitet er mit einer Bemerkung über den orangefarbenen „Idioten“ im Weißen Haus ein, an den man aktuell leider denken müsse, wenn es um jene Zirkusmenschen geht. Freuen kann er sich dennoch am Treiben in der Manege, und dass auch seine Enkelkinder den Zauber noch empfinden. Sein Klavier und das Akkordeon von Begleiter Ingo Rau versetzt uns bei dem Stück auch musikalisch ins Zirkusrund.
Raus Fähigkeiten müssen unbedingt noch gewürdigt werden: Der Deutsche ist Teil von Millns‘ langjährigem Trio, dazu gehört auch der Dresdner Butch Coulter, der krankheitsbedingt ausfiel und zum Schluss des Abends mit einem großen Applaus herzlich gegrüßt wurde. Rau sorgt mit E- und E-Kontrabass sowie seinem Akkordeon für die wichtige Unterstützung von Millns‘ Klavier und Gesang.
Querschnitt aus 50 Jahren
Aus diesem Abend mit seinem Querschnitt durch Millns‘ Songs der vergangenen 50 Jahre Höhepunkte herauszupicken, ist schwer. „History of a Kiss“ zählt dazu, die Erinnerung an eine längst vergangene Beziehung; in die gleiche melancholisch-poetische Rückblick-Schublade gehört „Thanks for the Photographs“. Sein Titanic-Song trägt den Titel „My Heart Won’t Go On“ – als er den Film sah, habe er sich „nach drei, vier Stunden nur einen Eisberg gewünscht, damit er endlich vorbei ist“. „Small Mercies“ zeigt hingegen den Menschenfreund: Millns weist darauf hin, dass es die kleinen Gesten zwischen zwei Menschen sind, die das Leben in schrecklichen Zeiten angenehmer machen.
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Alle, die an diesem Abend nicht dabei waren, seien hiermit aufgefordert, das nächste Mal zu kommen. Eine Möglichkeit, die Zeit bis dahin zu überbrücken, sind Millns‘ Alben. Die es nicht mehr auf Spotify gibt, wie er seinen Fans erst Anfang November mitgeteilt hat, mit der klaren Begründung der Ausbeutung der Kreativen auf dieser Plattform, dafür aber – wer nicht die physische Variante will – als digitaler Download von seiner Homepage zu beziehen sind. Viele Besucherinnen und Besucher entschieden sich in der Tante Ju für Platten und CDs direkt vom Merch-Stand. Gut so!
Dieses Jahr war alles andere als arm an bemerkenswerten Konzerten. Der Abend mit Paul Millns steht in meiner persönlichen Liste dennoch ganz oben unter den Top-Auftritten.
DNN