Sarah ist Kellnerin in einer Bar in Gainesville, einer Stadt im Bundesstaat Georgia im Südosten der USA. Gainesville nennt sich „Hühnerhauptstadt der Welt“. Die Bezeichnung steht auf einem Denkmal gleich neben der Bar, in der Sarah Chickenwings serviert. Sie sagt, hier bekomme man die besten Wings des Landes.

Unmittelbar neben der Bar hat die Stadt ein Hühnerdenkmal errichtet, einmal im Jahr gibt es in der Stadt ein großes Chicken Festival.Unmittelbar neben der Bar hat die Stadt ein Hühnerdenkmal errichtet, einmal im Jahr gibt es in der Stadt ein großes Chicken Festival. (Foto: Charlotte Walser)

Hühnerflügel müssen von Hand gegessen werden: Eine Verordnung von 1961 – als Marketing-Gag erlassen – verbietet die Benutzung von Besteck. Jeder kennt diese Geschichte. Noch nie gehört hat man in der Bar hingegen, dass sich Menschen in anderen Ländern vor US-Geflügel ekeln, weil dieses mit Chlor behandelt wird.

Chlorhühner? In der Bar gibt es Chickenwings der Geschmacksrichtungen „Buffalo“ oder „Lemon Pepper“

Die junge Kellnerin versichert, die Wings schmeckten nicht nach Chlor. Und wenn, dann würde man es dank der Gewürze nicht merken. Die Wings sind in Geschmacksrichtungen wie „Buffalo“ oder „Lemon Pepper“ erhältlich, wahlweise mit Ranch- oder Blue-Cheese-Dressing. Im Frühjahr strömen jeweils Tausende Menschen nach Gainesville zum großen Chicken Festival, um sämtliche Variationen zu kosten.

Die Schweiz hat keinen Appetit auf Wings aus Gainesville: Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Zeitung Blick sagen 95 Prozent, sie würden kein amerikanisches Geflügel kaufen, wenn es im Regal läge. Dass die Frage gestellt wird, hat mit dem Zoll-Deal zu tun, auf den sich die Schweiz und die USA geeinigt haben.

Donald Trump – mit Goldbarren und einer Rolex-Uhr milde gestimmt – willigte ein, die Strafzölle zu senken. Doch die Schweiz musste Zugeständnisse machen. Unter anderem soll sie den zollfreien Import bestimmter Mengen verschiedener Fleischsorten aus den USA zulassen. Die Schweizer Regierung zeigte sich bereit, in den weiteren Verhandlungen auch über die Zulassung von „Chlorhühnchen“ zu sprechen – Hühnerfleisch, das mit einer Chlorlösung behandelt wurde.

Weder Mast- noch Verarbeitungsbetriebe in Gainesville lassen Besuche zu

Im Parlament steht nun zur Debatte, den Import von mit Chemikalien behandeltem Fleisch gesetzlich zu verbieten. Heute ist das „Chlorhühnchen“ in der Schweiz nur mittels einer Verordnung verboten, die die Regierung ändern könnte. In der EU gilt seit 1997 ein Verbot.

Wissenschaftler sagen zwar, der Konsum von behandeltem Fleisch sei unbedenklich. „Chlor“ klingt aber für viele abschreckend. Und in Europa herrscht die Auffassung vor, die Chemie werde eingesetzt, weil die Tierhaltung prekär und die Schlachtung unhygienisch sei.

Das "Georgia Poultry Laboratory Network" hat ein Modell gebaut, das erklärt, wie die Hühnerindustrie funktioniert. Die Betriebe der Konzerne in Gainesville sind nicht zu besichtigen.Das „Georgia Poultry Laboratory Network“ hat ein Modell gebaut, das erklärt, wie die Hühnerindustrie funktioniert. Die Betriebe der Konzerne in Gainesville sind nicht zu besichtigen. (Foto: Charlotte Walser)

Wie sieht es also auf den Hühnerbetrieben rund um Gainesville aus? Ein Augenschein ist nicht möglich: Die riesigen Hallen, in denen Zehntausende Hühner gemästet werden, können nur aus der Ferne betrachtet werden. Weder die Mast- noch die Verarbeitungsbetriebe lassen Besuche zu. Die Konzerne – Perdue Farms, Pilgrim’s Pride oder Mar-Jac Poultry – beantworten auch keine Fragen.

Ein Experte sagt, Chlor werde heute in der Produktion kaum noch verwendet

Wie die Hühnerindustrie vom Ei bis zur Schlachtbank funktioniert, erfahren Besucherinnen aber vom „Georgia Poultry Laboratory Network“, einem Labor im Norden der Stadt. Hier ist eine ganze Modelllandschaft aufgebaut: die riesigen Masthallen als Miniaturen in lieblicher Hügellandschaft, inklusive Hühnergegacker auf Knopfdruck.

Das Labor ist für Seuchenkontrolle und -bekämpfung zuständig. Durch Glas ist zu sehen, wie weiß gekleidete Angestellte mit Reagenzgläsern hantieren. Sie untersuchen Blutproben – auch auf Vogelgrippe: Wird in einer Herde ein Fall identifiziert, füllen Spezialisten die gesamte Masthalle mit einem Schaum, der die Hühner erstickt.

Doug Waltman arbeitet als Experte für Salmonellen im Labor. „Chlorhühnchen?“ Der Wissenschaftler lächelt. „Diese Diskussion gab es hier auch – vor zwanzig Jahren.“ Er habe sie nie ganz verstanden, gesteht Waltman. Das Trinkwasser werde mit Chlor aufbereitet, und auch abgepackter Salat werde in den USA mit einer Chlorlösung gewaschen. „Warum sollte das bei Geflügel ein Problem sein?“, fragt Waltman. Heute verwende die Geflügelindustrie aber ohnehin kaum noch Chlor.

Aus Sicht der Lobbyverbände geht es den Europäern nur darum, die eigenen Märkte zu schützen

Darauf weist auch der „National Chicken Council“ hin: Laut der Branchenvereinigung wird Chlor in weniger als fünf Prozent der Produktion eingesetzt. Zum Einsatz kommen andere Stoffe, vor allem Peroxyessigsäure (auch Persäure genannt), eine Mischung aus Essig und Wasserstoffperoxid.

Das Ziel ist es, Bakterien zu reduzieren – Darmbakterien, die bei der Schlachtung auf das Fleisch gelangen, aber auch Salmonellen. Dass damit mangelnde Hygiene kompensiert wird, streitet die Branchenvereinigung ab. „Absolut nicht“, lautet die Antwort. Die Mittel seien lediglich der letzte Schritt, um die Lebensmittelsicherheit zu erhöhen. Aus Sicht der Vereinigung lässt Europa den Import aus politischen Gründen nicht zu. Weil die Europäer den eigenen Markt schützen wollen.

Doug Waltman vom Hühnerlabor erklärt die Unterschiede zwischen der europäischen und der amerikanischen Produktion so: In Europa werde das Fleisch unmittelbar nach der Schlachtung in Kühlräume gebracht, in den USA werde es in eine kalte Lösung getaucht. Die europäische Variante wäre für die USA wegen der großen Produktionsmengen schlicht zu teuer.

47 Kilogramm Hühnerfleisch pro Kopf konsumierten die Amerikanerinnen und Amerikaner im vergangenen Jahr

Die Mengen sind nicht nur groß, sondern gigantisch. Im vergangenen Jahr wurden in den USA 9,4 Milliarden Masthühner geschlachtet. Huhn ist das beliebteste Fleisch: 47 Kilogramm pro Kopf konsumierten Amerikanerinnen und Amerikaner 2024 – fast doppelt so viel wie vor 40 Jahren. Der Bundesstaat Georgia gehört zu den Top-Herstellern. Er produziert täglich rund 14 Millionen Kilogramm Hühnerfleisch.

Die Industrie werde immer effizienter, sagt Waltman. Das habe mit der Züchtung zu tun – mit Hühnern, die das Schlachtgewicht schneller erreichten. Im Jahr 1925 lebte ein Masthuhn 112 Tage und wog bei der Schlachtung etwas mehr als ein Kilogramm. Heute werden die Hühner schon nach 47 Tagen geschlachtet. Sie wiegen dann fast drei Kilogramm. Tierschutzorganisationen sprechen von „Qualzuchten“, die zu Lahmheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Brustmuskeldefekten führten.

Aus Sicht des Schweizer Tierschutzes (STS) ist das Hauptproblem an US-Hühnern daher nicht die chemische Behandlung nach der Schlachtung, sondern die Kombination aus Qualzucht, hoher Dichte im Stall und fehlenden tiergerechten Strukturen. All das betrifft zwar Hühner in Europa und in der Schweiz ebenfalls. Laut dem STS geht es ihnen im Vergleich zu US-Hühnern aber doch besser.

In den Masthallen sind mehr als 20 Hühner pro Quadratmeter üblich

So haben Schweizer Hühner etwas mehr Platz. In den US-Masthallen, wo Hühner bei künstlichem Licht gehalten werden, sind 43 Kilogramm Huhn pro Quadratmeter üblich. Das sind – je nach Alter – mehr als 20 Tiere. In der Schweiz werden die meisten Hühner nach Richtlinien gehalten, die eine Obergrenze von 30 Kilogramm pro Quadratmeter vorschreiben.

Mitunter kommt die Kritik auch aus dem Innern der Industrie. Craig Watts wurde vor zehn Jahren zum Whistleblower des Jahres ernannt. Er arbeitete damals für den Konzern Perdue und prangerte die Zustände öffentlich an. Heute züchtet Watts Pilze. In TV- und Zeitungsinterviews sagt er, die Art und Weise, wie man Tiere behandle, offenbare den Charakter von Menschen. Und, an die Adresse der Konsumenten: „Ihr habt dreimal täglich die Wahl, was ihr esst.“

Der „National Chicken Council“ betont, auf das Tierwohl werde Wert gelegt. Er weist auf seine Richtlinien hin. Diese schreiben etwa vor, dass den Hühnern innerhalb von 24 Stunden mindestens vier Stunden Dunkelheit zugestanden wird. Hühner dürfen nicht gezogen, geschlagen, getreten oder geworfen werden, und verletzte Tiere dürfen nicht lebendig in der Abfalltonne entsorgt werden.

Lebende Hühner sind in Gainesville nur auf Trucks zu sehen, die zu den Schlachthäusern fahren

Für den Schlachthof gibt es ebenfalls Vorschriften. Die Hühner werden dort an den Füßen an einer Kette aufgehängt, um in elektrisch aufgeladenes Wasser getaucht zu werden. Die Tierschutzrichtlinien schreiben vor, dass in der Kette keine Füße der letzten Hühnercharge hängen dürfen, wenn die nächste befestigt wird.

Die Hühner auf den Trucks, die durch Gainesville fahren – die einzigen lebenden Hühner, die man zu sehen bekommt –, befinden sich auf dem Weg zu dieser Kette. Auf den ersten Blick sind sie kaum als Hühner zu erkennen: Die kleinen, aufeinander gestapelten Käfige auf den Trucks scheinen ganz mit weißen Federn gefüllt. Erst aus der Nähe sieht man Köpfe, Augen, Schnäbel. Halten die Trucks vor einem Rotlicht an, ist auch ein leises Gackern zu hören.