Die neue Netflix-Doku-Serie «The Reckoning» über den verurteilten Rapper P. Diddy ist erschütternd, überschreitet aber auch journalistische Grenzen.

Hinter der tadellosen Fassade erstreckt sich eine Spur der Gewalt: Sean Combs im Mai 2008 in Cannes.Hinter der tadellosen Fassade erstreckt sich eine Spur der Gewalt: Sean Combs im Mai 2008 in Cannes.

Eric Gaillard / Reuters

Vor zweieinhalb Jahren ging ein Video um die Welt, das den Musikproduzenten, Rapper und Sonnenbrillenverkäufer Sean Combs dabei zeigte, wie er seine Freundin Cassie Ventura in den Gängen eines Hotels in Los Angeles verprügelte. Bekleidet nur mit einem Badetuch, riss er sie zu Boden, trat sie mit den Füssen und schleifte sie, wie ein Raubtier seine Beute, über den Korridor.

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Am 3. Oktober 2025 wurde Combs, bekannt unter den Künstlernamen Diddy, P. Diddy, Puff Daddy oder Brother Love, wegen erzwungener Prostitution zu einer Haftstrafe von 50 Monaten verurteilt. In den Augen vieler Beobachter ein Witz, zumal Combs, trotz erdrückenden Beweisen, in den wichtigsten Anklagepunkten freigesprochen wurde: organisierte Kriminalität, Menschenhandel, Vergewaltigung und Entführung.

Seit letzter Woche wird auf Netflix die Doku-Serie «Sean Combs: The Reckoning» ausgestrahlt, die eine klare Absicht verfolgt: nicht nur den steilen Aufstieg und tiefen Fall des New Yorkers aufzuzeichnen, sondern auch die Spur der Gewalt, die er zurückliess. Zu Wort kommen ehemalige Geschäftspartner, Mitarbeiterinnen, Bodyguards, Musikerinnen und Vertraute: Sie erzählen, wie sie von «Brother Love» betrogen, bedroht, erniedrigt oder eingeschüchtert wurden.

Combs hat recht, wenn er aus seiner Zelle ausrichten lässt, dass «The Reckoning» der Versuch sei, ihn als Monster zu porträtieren. Zu überwältigend ist das Videomaterial, das der Filmemacherin Alexandria Stapleton zur Verfügung stand, zu kompromittierend sind die Interviews, die sie führte, um in Combs nicht nur einen skrupellosen, sondern auch einen gefährlichen Menschen zu sehen. Kaum zu ertragen sind die Aussagen zahlloser Frauen (und einiger Männer), die von ihm missbraucht worden waren; sexuell, psychisch, physisch. Nein, man hat kein Mitleid mit dem Mann, wie er am Ende der vierstündigen Doku auf seinem Bett in einem teuren Hotel in Manhattan hockt, den leeren Blick aufs Handy gerichtet, das ihn nicht mehr retten wird, egal, welchen Anwalt er anruft.

Es ist gut, dass es diese Doku gibt. Aber man muss sie auch kritisch sehen. Dass «The Reckoning» unseren Durst nach «True Crime»-Storys stillt, ist das eine. Das andere ist, dass die Serie zu locker mit journalistischen Kriterien hantiert. Ausgerechnet der Rapper 50 Cent, der selbst schon so manche Gefängniszelle von innen sah, fungiert als Produzent – ein Erzrivale, der alle Register zieht, um Combs zu Fall zu bringen. Hinzu kommen spektakuläre Verschwörungstheorien: Ex-Gangmitglieder deuten eine Beteiligung Combs an der Ermordung der Rapper Tupac und Notorious B. I. G. an, worauf Texte eingeblendet werden, die betonen, dass es dafür keinerlei Beweise gibt.

Dokumentarfilme entfernen sich im Netflix-Zeitalter schleichend von ihrer Bestimmung, die Realität abzubilden. Sie müssen vor allem unterhalten. Auch der «Spiegel»-Reporter Juan Morendo sah mit seinem Film über den Rapper Haftbefehl über journalistische Grundsätze hinweg, indem er gewisse Aspekte (Antisemitismus, Misogynie, Fahrerflucht) zugunsten seines Protagonisten ausblendete. Das hilft der Dramaturgie, verzerrt aber das Wichtigste: die Wahrheit.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»