Als Sebastian Smees Buch „Paris in Ruins. The Siege, the Commune and the Birth of Impressionism“ voriges Jahr in den Vereinigten Staaten erschien, jährte sich zum 150. Mal die erste Sezessions-Ausstellung, die im Atelier des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines stattfand. Der 15. April 1874 gilt deswegen als Geburtsstunde des Impressionismus, dafür stehen heute die Namen Degas, Monet, Pissarro, Renoir, Sisley und, als einzige Frau, Berthe Morisot. In den Mittelpunkt seiner groß angelegten Erzählung stellt Smee aber Édouard Manet, den gewiss maßgeblichen Wegbereiter des Impressionismus (der sich allerdings weigerte, an dieser Schau teilzunehmen), und Berthe Morisot.

Keineswegs zeigt Smee das für Frankreich, vor allem für Paris „schreckliche Jahr“ 1870/71 allein aus der Sicht dieser zwei Künstler, die in der Stadt geblieben waren und so zu Zeugen der Wirren und Gräuel wurden. Vielmehr entsteht ein Panorama, nicht im Stil eines Historiengemäldes staatstragender Machart, sondern im Sinne eines hierarchiefreien Tableaus, auf dem er die Personen und Ereignisse ins Licht setzt, wie es für die Werke der dann Impressionisten Genannten charakteristisch ist.

Biografien und Geschichte eng verknüpft

Detailreich, nachgerade filmisch schildert er, beginnend mit dem Jahr 1869, die gesellschaftliche Entwicklung unter dem unglücklich agierenden Kaiser Napoleon III. und seiner Regierung, die am 19. Juli 1870 Preußen und dem Norddeutschen Bund den Krieg erklärten und damit ihren Teil zur Katastrophe des Deutsch-Französischen Kriegs beitrugen. Er beschreibt die schrecklichen Auswirkungen der Belagerung für die Bevölkerung von Paris, den daraus folgenden Aufstand der Kommune, der zur Durchsetzung der Republik im März 1871 führte, und dessen Niederschlagung in der „Blutigen Woche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 durch die Truppen der französischen Regierung – von furchtbarer Grausamkeit begleitet.

Sebastian Smee: „Paris im Aufruhr“. Liebe, Krieg und die Geburt des Impressionismus.Sebastian Smee: „Paris im Aufruhr“. Liebe, Krieg und die Geburt des Impressionismus.Insel

Was das Buch so mitreißend macht, ist die Verknüpfung der Biographien von Morisot und Manet (auch einiger anderer Künstler, wie des radikalisierten, aber doch auch geschmeidigen Realismus-Protagonisten Gustave Courbet) mit dem Untergang des Second Em­pire, dem Erstarken der Republik und dem Erwachen des Impressionismus als Stilrichtung.

Sorgfältig wendet Smee sich Berthe Morisot zu. Die junge Malerin hatte bereits Erfolge – schon seit 1864 konnte sie, wie auch ihre Schwester Edma, Gemälde in den Pariser Salons präsentieren. Doch noch war sie, in ihrem gut situierten Elternhaus lebend, nicht an ihrem Ziel angekommen, das sie in einem Brief an Edma klar formulierte: „ich hoffe, dass du dich in meine Lage versetzen kannst und verstehst, dass die Arbeit mein einziger Daseinszweck ist“. „Die Botschaft war klar“, kommentiert Smee, „Berthe Morisot wollte die Malerei zu ihrem Beruf machen.“ Er zeigt, wie sehr Morisot unter ihrer strukturellen Benachteiligung als Frau litt, die sie als ernsthafte Künstlerin und unverheiratete Frau, als „vieille fille“, in eine nicht nur finanziell prekäre Lage hätte bringen können. Das Schicksal blieb ihr erspart; sie heiratete 1874 Manets Bruder Eugène, der sie auch in ihrer Malarbeit unterstützte, und brachte 1878 die Tochter Julie zur Welt.

Mit dem in Gesellschaft gewandten – auch er gehörte einer wohlhabenden Familie an –, neun Jahre älteren und verheirateten Édouard Manet, dessen „unfertiger“ Malstil im Aufbruch zu einer neuen Freiheit bei den konservativen Kunstrichtern auf Ablehnung und Unmut stieß, verband sie eine vielleicht nicht nur künstlerische Nähe.

So war es für sie eine harte Erfahrung, als Manet im für Morisot von depressiver Verstimmung verdüsterten Jahr 1870 in ihr fast fertiges, intimes Gemälde „La Lecture“, das ihre Mutter und Schwester beim Lesen zeigt, eingriff: Er nahm sich einen ihrer Pinsel, und „als er einmal angefangen hatte“, schreibt sie an Edma, „konnte ihn nichts mehr aufhalten; vom Rock ging er zur Büste weiter, von der Büste zum Kopf, vom Kopf zum Hintergrund. Er machte tausend Scherze, lachte wie ein Verrückter, reichte mir die Palette, nahm sie mir wieder aus der Hand. Um fünf Uhr nachmittags hatten wir schließlich die hübscheste Karikatur aller Zeiten gemalt.“

Die Zartheit der Portraits

Das war zweifellos ein Übergriff, ein Akt von Mansplaining. Dennoch entstand nach dem Ende des Aufstands in Paris vorübergehend eine eher noch engere Verbindung zwischen Morisot und Manet – eine künstlerische Einflussnahme, die sichtbar auf Gegenseitigkeit beruhte. Manet malte bezaubernde Porträts von Morisot, in denen ihr Duktus erkennbar wird. Ihre Beherrschung des Lichteinfalls und der Farbe, die hart erkämpfte Leichtigkeit der Pinselführung, ihr Mut, im Bild die Intimität reiner Gegenwart festzuhalten, stellte sie schließlich auf Augenhöhe mit ihren Kollegen Monet und Renoir, als bedeutende Protagonistin des Impressionismus. Ob Smee mit seiner Annahme recht hat, dass Morisot in Manet verliebt war – und vice versa –, ist mit Dokumenten nicht zu untermauern. Es sei denn, man lässt die Zartheit der Porträts, die er von ihr malte, als Beleg gelten.

Manet griff freimütig in den Malprozess ein: Berthe Morisot, La Lecture (1869/1870)Manet griff freimütig in den Malprozess ein: Berthe Morisot, La Lecture (1869/1870)picture alliance/dpa/MAXPPP

Die meisten jüngeren französischen Künstler, auch Morisot, standen auf der Seite der Republik. Édouard Manet und sein Freund und Konkurrent Edgar Degas ließen sich sogar für die Nationalgarde rekrutieren. „Die beiden Maler waren Pa­trioten“, schreibt Smee, „und hielten es für ihre Pflicht, die junge Republik zu verteidigen.“ Die Bedrohung bestärkte sie im Gefühl, richtig zu handeln. Allerdings ging Manet schließlich auf Distanz zu Teilen der Pariser Kommune: „Das blutrünstige Vorgehen der Radikalen, so seine Befürchtung, habe eine Idee, die in der Öffentlichkeit großen Zuspruch gefunden hatte, nahezu zerstört, nämlich die Vorstellung, das einzige geeignete Regierungssystem für ,anständige, friedliche, intelligente Menschen‘ sei die Republik.“

Nach dem Ende des Chaos vertraten das konservative Kunst-Establishment wie auch die Nationalversammlung die Besinnung auf die überkommene Haltung, die der klassische Salon erfüllen sollte. Gegen dieses Programm trat die erste Ausstellung der Sezessionisten 1874 an, als Feier des freien Lichts, zugleich Zeichen eines demokratischen Aufbruchs (es gab auch keine beschränkte Zulassung): „Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit flossen in verschiedener Form in die Arbeiten der neuen Maler ein, aber ihr vielleicht wichtigstes Thema war das Gefühl der Vergänglichkeit, das in ihren Bildern allgegenwärtig war.“ Und, so Smee weiter, „bewusst oder unbewusst – ein tiefes Gefühl der existenziellen Zerbrechlichkeit. Am wichtigsten war ihnen Aufrichtigkeit.“ Gegen Manets Rat – vielleicht fürchtete er, sie könne sich damit als schon etablierte Künstlerin diskreditieren – reichte Berthe Morisot einige Werke ein.

Sebastian Smee, der in Australien geborene Pulitzer-Preisträger und Kritiker der „Washington Post“, hat sein fast 500 Seiten langes Buch ganz ohne Anmerkungen verfasst. Er verschränkt nicht nur das Aufkommen und Erstarken des neuen, so flüchtigen Malstils mit dem Geschehen in Paris, sondern es gelingt ihm, was er vorsichtig in den Quellenhinweisen am Ende als „Versuch“ bezeichnet, „Geschichte, Biographie sowie Militär- und Sozialgeschichte miteinander zu verflechten“. Dort nennt er die für ihn wichtigsten Titel, die auch in einer Bi­bliographie zusammengefasst sind, und dort ist auch ein Personen- und Werkregister aufgeführt. Er schreibt in einem angenehm kühlen Stil, den auch die Übersetzung von Stephan Gebauer zu vermitteln weiß. Wo seine Sympathien liegen, wird klar. Doch er urteilt ohne persönliche Emphase, was den Erkenntnisgewinn und nicht zuletzt das Lesevergnügen beflügelt.

Sebastian Smee: „Paris im Aufruhr“. Liebe, Krieg und die Geburt des Impressionismus. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Insel Verlag, Berlin 2025. 495 S., Abb., geb., 30,– €.