Das Jahr 1770 hielt für den vierzehnjährigen Wolfgang Amadé Mozart eine unerwartete seelische Erschütterung bereit: Jemand, der nicht zur Familie gehörte, weinte um ihn und konnte sich nicht von ihm trennen. In Florenz hatte Mozart den gleichaltrigen Thomas Linley kennengelernt, einen hochbegabten Geiger und Komponisten aus England. Die beiden Jungen konnten von Anfang an nicht mehr voneinander lassen. Endlich hatten sie einen Gleichaltrigen gefunden, mit dem sie sich austauschen konnten. Im Haus der Florentiner Dichterin Corilla Olimpica machten sie bis zu fünf Stunden hintereinander gemeinsam Musik: Linley auf der Geige, Mozart auf dem Cembalo.

Leopold Mozart schreibt später an seine Frau: „Diese 2 Knaben producirten sich wechselweise den ganzen Abend unter beständigen Umarmungen.“ Beides, das Musizieren und das Umarmen, hörte tagelang – zur Verwunderung des Mozart-Vaters – nicht auf. „Der kleine Tomaso begleitete uns nach Hause und weinte die bittersten Tränen, weil wir Tags darauf abreiseten. Da er aber vernahm, dass unsere Abreise erst auf den Mittag vestgestellt seye, so kamm er morgens um 9 Uhr und gab dem Wolfg: unter vielen Umarmungen folgende Poesie, die die Corilla den Abend vorhero ihm noch machen musste und dann begleitete er unseren Wagen bis zum Stadtthore.“

Gedicht als Liebeserklärung zwischen Vierzehnjährigen

Die „Poesie“, die Linley bei Corilla in Auftrag gab, beginnt mit den Worten: „Seit das Schicksal mich von Dir getrennt, kann ich Dir nur noch in meinen Gedanken folgen und Freude und Lachen wird sich in Klage wandeln, doch inmitten der Klage hoffe ich, Dich wiederzusehen.“ Und sie endet mit den Zeilen: „Geben die Götter, dass Du aus Deinem Herzen nie Mich vertreibst! Ich werde Dich immer lieben und immerfort Deinem Können nacheifern.“

Das war im April. Im Dezember wurde in Mailand Mozarts Oper „Mitridate, re di Ponto“ uraufgeführt. Ihre schönste Musik sind die Arien und Duette von Aspasia und Sifare, die voneinander Abschied nehmen müssen, weil Sifares Vater es so will. Mozart schreibt für zwei gleiche Stimmen: beides Sopran. Er hat weder das Libretto noch die Besetzung selbst gewählt. Aber aus seiner Erfahrung schöpfen – das konnte er nun in neuer Weise. War er bislang das Wunderkind, das sich mit allen Kunstregeln auskennt, meldet sich nun ein Mensch, der den Zustand, sich nicht mehr auszukennen, in Musik fasst. Plötzlich, in Sifares Arie „Lungi da te, mio bene“, überfallen uns das traurige D-Dur mit tröstlichem Solohorn, das schwebende h-Moll, das so oft die Subdominante G-Dur ersetzt, die chromatischen Anschärfungen der Sehnsucht in der Gesangslinie.

DSGVO Platzhalter Externe Inhalte aktivieren

Der Regisseur Claus Guth hat dieses gewichtige Frühwerk Mozarts nun gemeinsam mit dem Dirigenten Leo Hussain an der Oper Frankfurt herausgebracht. Er deutet den Konflikt der zwei Prinzen Sifare und Farnace mit ihrem tyrannischen Vater Mitridate, dessen Verlobte Aspasia sie beide lieben, als Familienrivalität innerhalb eines großbürgerlichen Firmenimperiums. Christian Schmidt hat dafür eine Luxuswohnung aus kastanienbraunen Holzwänden und grauem Stein gebaut. Sie lässt sich drehen. Auf der Rückseite wird ein abstrakter Raum sichtbar, in dem die Choreographin Sommer Ulrickson sehr einleuchtende psychologische Spiegelungen und Familienaufstellungen tanzen lässt.

Es wird ein Abend über Manipulation und Erpressung, auch über die Reifung zweier Schnösel zu verantwortungsvollen Menschen. Dass die Lösung des Konflikts durch die Selbsttötung des verhängnisvollen Vaters nicht in der konkreten Welt, sondern im abstrakten Raum stattfindet, ist eine kluge Entscheidung Guths, mit der Unwahrscheinlichkeit des guten Endes in der ernsten Oper umzugehen.

DSGVO Platzhalter Externe Inhalte aktivieren

Es ist vor allem der Abend der Sopranistin Monika Buczkowska-Ward als Sifare, die bei sauberster Intonation mit durchschlagender Intensität singt. Man kann sich der Überredungskraft dieser stimmlichen Schönheit schwer entziehen. In der Kehlfertigkeit der Koloraturen, der Höhentauglichkeit – Mozart jagt sie gleich in der ersten Arie aufs dreigestrichene C – steht ihr Bianca Tognocchi als Aspasia keineswegs nach. Doch ihre Stimme wirkt leichter, heller, etwas körperärmer, auch wenn ihr die Kavatine „Bleiche Schatten“ – noch so ein früher Geniestreich – eindrucksvoll gelingt.

Der Countertenor Franko Klisović, der in Händels „Partenope“ durch seinen glühenden Lyrismus auffiel, zeigt sich jetzt als Farnace dramatischer, aggressiver und sprungsicher vom und in den Mischbereich zwischen Brust- und Kopfstimme. Mit der Sopranistin Younji Yi als Isemene können wir die nächste große Gesangsbegabung aus Korea in Frankfurt begrüßen: Sie vereint verführerische timbrale Süße mit einem hervorragenden rhetorischen Sinn für theatrale Sprache. Und Robert Murray als Mitridate legt einen furiosen tenoralen Wutausbruch hin, für den Mozart auf aberwitzige Koloraturen fast gänzlich verzichtete.

Leo Hussain treibt mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester das Geschehen an, erzeugt – mit anschwellenden Obertönen der Oboe – atmende Innigkeit, aber hält sich von einem modisch gewordenen Aufkratzen der Affekte angenehm fern. Zwischen den Figuren geistert Philippe Jacq als stummer Diener wie ein Wiedergänger Hubert („Hubsi“) von Meyerincks herum. Das ist sehr hübsch und das Publikum am Ende von allem begeistert.