In der Finanzwelt würde man von einem Schneeballsystem sprechen: Wenn ein Unternehmen Geld eines Investors verwendet, um seine Schulden bei einem früheren Geldgeber zu bezahlen, ist dieses Vorgehen in der Regel strafrechtlich relevant. Nach diesem Prinzip will die EU jedoch vorgehen, wenn sie ihren Zugriff auf eingefrorene russische Zentralbank-Vermögen durchsetzt. Das US-Magazin Politico hat die entsprechende Vorlage der EU-Kommission gesehen. Demnach sieht der von der Behörde von Ursula von der Leyen vorgeschlagene Reparationskredit vor, dass „45 Milliarden Euro des Gesamtpakets der Rückzahlung eines im vergangenen Jahr an die Ukraine vergebenen G7-Kredits“ dienen sollen. 115 Milliarden Euro sollen zur Finanzierung der ukrainischen Rüstungsindustrie verwendet werden. Lediglich 50 Milliarden Euro sollen für den Haushaltsbedarf Kiews herangezogen werden.
Das bedeutet: Ein erheblicher Teil des „Hilfsgeldes“ wird für den Roll-over eines alten Kredits verwendet. In der G7 sind neben den USA und Großbritannien auch die wichtigsten EU-Länder vertreten. Politico schreibt nicht, welche Banken in welchen Ländern mit dem neuen Kredit ihr Ausfallrisiko minimieren wollen. Allerdings erinnert das Modell an die sogenannten Griechenland-Hilfen, bei denen Milliarden an Steuermitteln zur Rettung deutscher und französischer Banken verwendet wurden. Gleichzeitig wurden den Griechen strenge Austeritäts- und Privatisierungsregeln auferlegt. Die Dringlichkeit der neuen Finanzierungsrunde dürfte damit zusammenhängen, dass einzelne Großbanken vermeiden wollen, wegen Zahlungsausfällen in eine Schieflage zu geraten.
Die Staats- und Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands trafen sich am Montag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Die Europäer sind unter Druck, weil die USA und Russland darüber verhandeln, gemeinsam über die Verwendung der eingefrorenen russischen Zentralbankgelder entscheiden zu wollen. Für den Zugriff müssen die Europäer Garantien aufbringen. In einem ersten Versuch haben die Europäer die in Belgien blockierten Gelder ins Visier genommen. Rund 185 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Geldern werden von der Brüsseler Verwahrstelle Euroclear verwaltet, während weitere 25 Milliarden Euro auf privaten Bankkonten in der EU verteilt sind.
Laut der EU-Präsentation, über die Politico berichtet, müssen die EU-Länder einzeln Milliarden von Euro zusichern, um die neuen Kredite für die Ukraine zu garantieren. Deutschland sollte demnach bis zu 52 Milliarden Euro absichern. Die Gesamtsummen pro Land könnten jedoch steigen, wenn Staaten wie Ungarn sich weigern, der Initiative beizutreten. Nicht-EU-Länder könnten theoretisch einen Teil der Gesamtgarantie übernehmen. Norwegen war als möglicher Kandidat im Gespräch, bis Finanzminister Jens Stoltenberg Brüssel eine Absage erteilte.
Frankreich hält sich bedeckt, weil Paris seinerseits unter Beschuss geraten ist: Frankreich steht laut der Financial Times (FT) unter Druck, 18 Milliarden Euro russischer Staatsgelder lockerzumachen, die größtenteils bei französischen Privatbanken liegen. Trotz Nachfragen aus den anderen Hauptstädten hält Paris die Namen der Banken unter Verschluss. Als Grund nennt es die Vertraulichkeit gegenüber seinen Kunden. Laut FT soll ein Großteil der Assets bei der BNP Paribas liegen.
Bundeskanzler Friedrich Merz war am Freitagabend in Brüssel, um De Wever laut Politico „zu versichern, dass Deutschland 25 Prozent des Backstops übernehmen werde – den größten Anteil aller Länder“. Merz sagte nach dem Treffen: „Die besondere Betroffenheit Belgiens in der Frage einer Nutzbarmachung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte ist unbestreitbar und muss in jeder denkbaren Lösung so adressiert werden, dass alle europäischen Staaten dasselbe Risiko tragen.“
Auf die Frage, ob Deutschland bereit wäre, allein Garantien zu übernehmen, wollte sich eine Regierungssprecherin auf Anfrage der Berliner Zeitung nicht äußern. Sie verwies auf Aussagen des stellvertretenden Sprechers der Bundesregierung, Sebastian Hille, der im Vorfeld des Treffens in Belgien gesagt hatte: „Das ist aber eine große, komplexe Operation, die nur in großem europäischem Einvernehmen denkbar und möglich sein wird. Genau auf dieser Mission ist der Kanzler weiter unterwegs, nachdem er die Initiative dazu ergriffen hat, das über die letzten Wochen eng begleitet hat und jetzt auch im Zulauf auf den Europäischen Rat daran arbeitet, die Belgier mitzunehmen und eine Mehrheit für den Europäischen Rat zur Nutzbarmachung der ‚frozen assets‘ zu organisieren.“
Auf die Frage, inwieweit deutsche Unternehmen von der Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine profitieren würden und ob es Vorkehrungen gäbe, Korruption zu verhindern, sagte die Sprecherin: „Die Bundesregierung wird die Ukraine weiter intensiv und umfangreich unterstützen. Dies gilt auch für Fragen der Korruptionsbekämpfung sowie weitere Reformen im Bereich Rechtsstaatlichkeit. Hierzu wird auch auf den EU-Beitrittsprozess und entsprechende Reformvoraussetzungen der Ukraine verwiesen.“
Ein seltsames Detail legt die von Politico entdeckte Präsentation der EU offen: Im Jahr 2027 sollen angeblich 32,2 Milliarden Euro aufgewendet werden, um das Haushaltsloch zu stopfen. 2028 sind es plötzlich nur noch 3,8 Milliarden Euro, die fehlen. Für 2029 und 2030 wird demnach kein weiteres Geld für den Haushalt benötigt – eine erstaunliche Genesung in kürzester Zeit. Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur sind laut EU nicht durch die neuen Milliarden-Kredite abgedeckt.