Bielefeld. Ist das historische Spiegelzelt mit seinem plüschigen roten Ambiente, als Stätte vorweihnachtlicher Besinnlichkeit, der richtige Rahmen, um über die mutmaßlich größte Vergewaltigungsserie in Deutschland zu sprechen, die sich in Bielefeld zugetragen hat? Diese Kritik war im Vorfeld des True-Crime-Live-Podcasts „OstwestFälle“ über die Tatserie im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) an die Veranstalter Neue Westfälische und Stratmann Events herangetragen worden. Doch der Zuspruch und vor allem die besondere Intensität der Gespräche auf dem Podium machten deutlich, dass die Location im Ravensberger Park – so sie wirklich jemanden gestört haben sollte – weit hinter die Schilderung der schrecklichen Ereignisse zurücktrat, die nicht nur in Bielefeld für Erschütterung gesorgt haben.

NW-Chefredakteurin Andrea Rolfes begrüßte am Dienstagabend die rund 260 Zuhörerinnen und Zuhörer im Spiegelzelt. Und sie räumte offenherzig ein, dass sie ein Leserbrief sehr berührt habe, in dem es eben um die Frage gegangen sei, ob der Veranstaltungsort nicht zu irritierend sei und ob die Belange der betroffenen Frauen genügend berücksichtigt sein würden. Doch genau dies sei die Intention des Abends – das über Gewalt an Frauen gesprochen werde, so Rolfes. Öffentlich. Dass Schweigen gebrochen werde. Dass das lange Ringen der Opfer um Aufklärung, welches noch nicht zu Ende ist, immer wieder in den Mittelpunkt gerückt werde.

Um dies verantwortungsvoll zu tun, waren vier Gäste eingeladen, die mit OstwestFälle-Moderatorin Birgitt Gottwald professionell aus verschiedensten Perspektiven über den Fall sprachen, der bundesweit für Aufsehen gesorgt hat. Als da waren Stefanie Höke, Anwältin von zwölf Frauen, die von der Serienvergewaltigung in Bethel betroffen sind; Rechtsanwalt Carsten Ernst, der Täter Philipp G. bis zu dessen Selbsttötung vertreten hatte; die Landtagsabgeordnete Norika Creuzmann, die rund 30 Jahre im Frauenhaus Paderborn gearbeitet hat und als Expertin zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen gilt, sowie Redakteurin Heike Krüger, die stellvertretend für das NW-Team auf der Bühne saß, das über Jahre immer wieder über die Vergewaltigungsserie, die Folgen und die Opfer geschrieben hat.

Bielefelder Vergewaltigungsserie mit beispielloser Chronologie


Stefanie Höke (l.) vertritt als Anwältin zwölf der Vergewaltigungsopfer. Sie ist froh, dass es nun doch noch eine Aufarbeitung des Bethel-Falls vor Gericht geben wird. - © Sarah Jonek

Stefanie Höke (l.) vertritt als Anwältin zwölf der Vergewaltigungsopfer. Sie ist froh, dass es nun doch noch eine Aufarbeitung des Bethel-Falls vor Gericht geben wird.
| © Sarah Jonek

Im ersten Teil des Abends ging es vorrangig um die beispiellose Chronologie des Falls, der mit der Anzeige einer Patientin im September 2019 ins Rollen kam und mit der Festnahme des jungen Assistenzarztes im September 2020 öffentlich wurde. Die Dimension seiner Vergehen wurde erst nach und nach deutlich. Der damals 32-Jährige, der seit Februar 2018 im EvKB angestellt war, hatte seine Taten gefilmt und akribisch archiviert. Es dauerte Monate, die 15 Terabyte an verschlüsselten Daten zu knacken und zu sichten.

Die Ermittler gehen nach der Auswertung von insgesamt 44 Vergewaltigungsopfern aus, davon 30 im Klinikum Bethel. Philipp G. hat sie nachts aufgesucht, betäubt, missbraucht und vergewaltigt. Zwölf weitere Opfer soll es in G.s privaten Umfeld gegeben haben. Einige dieser Frauen und möglicherweise 68 weitere hat er mit seinen Geschlechtskrankheiten angesteckt. Zur Rechenschaft konnte er nicht mehr gezogen werden, weil er sich wenige Tage nach der Festnahme in seiner Zelle das Leben genommen hat.

Es ging im Spiegelzelt um den Vorwurf des Fehlverhaltens von Vorgesetzten im EvKB, um Versäumnisse der Polizei, die nach der Anzeige schneller hätte feststellen können, dass dem als charmant und freundlichen beschriebenen Arzt bereits als Medizinstudent 2016 vorgeworfen worden war, in einem anderen Krankenhaus eine Patientin betäubt und vergewaltigt zu haben – vermutlich Philipp G.s erstes Opfer. Damals war das Verfahren mangels Beweisen eingestellt worden. „Spätestens ab dem Moment ist alles falsch gemacht worden“, urteilte Rechtsanwältin Höke.

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Opfer nicht informiert – „eine unerträgliche Entmündigung“


Carsten Ernst war Verteidiger des jungen Assistenzarztes, der sich in der Untersuchungshaft das Leben nahm. Er hätte sich gewünscht, sein Mandant hätte Rechenschaft für seine Taten abgelegt. - © Sarah Jonek

Carsten Ernst war Verteidiger des jungen Assistenzarztes, der sich in der Untersuchungshaft das Leben nahm. Er hätte sich gewünscht, sein Mandant hätte Rechenschaft für seine Taten abgelegt.
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Nach dem Tod des Täters schloss die Staatsanwaltschaft Bielefeld vorschnell die Akten, viele Frauen wurde zunächst nicht darüber informiert, dass sie Opfer von Philipp G. geworden sind. „Eine unerträgliche Entmündigung der Frauen“, wie Heike Krüger betonte, die mit etlichen Opfern gesprochen hat. Erst die Intervention des damaligen NRW-Justizministers und die folgenden vierjährigen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Duisburg wendeten das Blatt. Und nun sind drei EvKB-Mitarbeiter der „fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen“ angeklagt und werden sich in absehbarer Zeit vor dem Landgericht Bielefeld verantworten müssen.

Im Publikum dürften mutmaßlich zahlreiche Mitarbeitende der von Bodelschwinghschen Stiftungen gesessen haben. Auf die Frage an einige, warum sie ins Spiegelzelt gekommen sind, gab es ganz unterschiedliche Antworten. Einige faszinieren Crime-Podcasts, ein 82-Jähriger ist selbst Opfer einer Straftat geworden und sieht sich selbst nicht gerecht behandelt. Ein Ehepaar ist der Auffassung, dass man sich mit derartigem Systemversagen unbedingt auseinandersetzen müsse. Und eine 67-Jährige, deren Familie eng mit Bethel verflochten ist, sieht sich durch das Gehörte in ihrer Auffassung bestätigt, dass in den Stiftungen über negative Dinge generell nicht gesprochen werde.

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Der zweite Teil des Live-Podcasts fokussierte sich mehr auf die Opfer. Ein Einspieler aus der Bielefelder Filmdokumentation „Chronik eines Versagens“ sorgte dafür, dass aus der gespannten Stille im Spiegelzelt eine sehr betroffene Stille wurde. Anna-Loreen, eine einst starke junge Frau, berichtet darin, wie sich durch die Vergewaltigung, die dreijährigen Suche nach der Ursache ihres Traumas und ihrer körperlichen Probleme, die zur Berufsunfähigkeit geführt haben, ihr Leben um 180 Grad gedreht hat. Sie beklagt, dass alles erst so spät ans Licht gekommen ist. „Ich bin verloren gegangen in dieser Nacht.“ Dieser Satz hallte lange nach.

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Gesellschaftliches Problem, dass Frauen so kämpfen müssen, um gehört zu werden


Rund 260 Zuhörer verfolgten gebannt die Schilderungen über die vermutlich größte Vergewaltigungsserie in Deutschland. - © Sarah Jonek

Rund 260 Zuhörer verfolgten gebannt die Schilderungen über die vermutlich größte Vergewaltigungsserie in Deutschland.
| © Sarah Jonek

Norika Creuzmann sagte, dass es nicht nur fahrlässig sei, Frauen das Wissen um die ihnen angetane sexuelle Gewalt vorzuenthalten. „Das hat schon was von Vorsatz. So etwas ist unfassbar.“ Denn es gebe ein Körpergedächtnis, Flashbacks, Symptome. „Das ist auch eine Form der Körperverletzung“, betonte sie, „und einen andere Art ausgeübter Macht“. Für Creuzmann ist es ein Rätsel, warum es nach so vielen Handlungsfehlern auf verschiedenen Ebenen noch keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu dem Fall gegeben hat.

Sie riet Frauen, dass, wann immer sie denken, dass ihnen Derartiges passiert sein könnte, sie sich unbedingt Hilfe suchen sollten. Und alle auf dem Podium waren sich einig, dass es auch ein gesellschaftliches Problem ist, wenn Frauen so darum kämpfen müssen, dass ihnen geglaubt wird, dass sie gehört werden, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. „Das Nichtgehörtwerden ist das größte Problem“, sagte Stefanie Höke.

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