Die Anzahl der Selbstmorde bei den orthodoxen Priestern ist gestiegen, hieß es auf einmal in den Nachrichten der Kirche. Was ist im Christentum die größere Sünde: Selbstmord zu begehen oder den Krieg zu verherrlichen? Das weiß ich nicht. Beinahe ein Fünftel aller Buchhandlungen hat dieses Jahr in Russland zugemacht. Na gut, das mag ein allgemeiner Trend sein, die Buchhandlungen gehen überall auf der Welt pleite, besonders schnell passiert es an den Orten, wo man nur Propagandaliteratur verkauft.

Und weniger als ein Drittel der Bevölkerung empfindet „Dankbarkeit“ für die Veteranen dieses Krieges, zwei Drittel empfinden „Angst“. Die Anstrengungen der Staatsmedien, die Veteranen zu verherrlichen und als neue Elite des Landes zu etablieren, sind gescheitert. Sehr eindringlich versucht das Regime, diesen Krieg als einen Dritten Vaterländischen Krieg zu inszenieren, die direkte Fortsetzung des Zweiten Vaterländischen Krieges gegen den Faschismus.

Die Teilnehmer werden als Helden und Heimatbeschützer inszeniert. Doch ohne Erfolg. Nach wie vor gibt es in Russland viel Armut: Menschen, die in kaputten kleinen Wohnungen leben und von Monat zu Monat an der Grenze ihrer finanziellen Möglichkeiten leben. Menschen, die Mini-Kredite aufgenommen und das Geld verprasst haben, Menschen, die sich noch nie einen Urlaub leisten konnten.

Als die Kriegsanwerbung begann, beschloss ein Teil dieser Haushalte, ihre Männer, Söhne oder Väter, dem Staat für den Krieg gegen teures Geld zu verkaufen. Die andere Hälfte beschloss, es nicht zu tun. Die ersten haben davon finanziell profitiert, selbst wenn sie ihre Männer verloren, haben sie mindestens die Wohnung renoviert, ein Auto gekauft, Kredite abbezahlt. Die andere Hälfte blieb arm und muss jetzt diese Kriegsgewinnler als neue Elite des Landes, als Helden achten und akzeptieren. Das tut sie aber nicht. Was die Musik auf der Straße betrifft, dazu sagt die Statistik nichts.

Im Winter spielen nur Verrückte auf der Straße. Eine Freundin schrieb aus Moskau, vor ihrem Wohnblock habe neulich ein Kind mit Brille und Gitarre gestanden und grottenschlecht gesungen: „Sie werden uns nicht faaangen/ Wir laufen weg/Weit von allen entfernt/ Alles wird einfach sein/ Die Nacht wird hereinbrechen/ Der Himmel wird über uns fallen/Sie werden uns nicht faangen“.

Das Lied, das der Junge sang, stammt von der Band t.A.T.u. aus dem Jahr 2001. Es ist älter als er selbst. Damals sangen es zwei Mädchen, die so taten, als wären sie lesbisch. Sie küssten sich auf der Bühne. Und keiner wollte sie damals jagen, keiner wollte sie fangen. Die Luft roch nach Freiheit, und alle dachten, es sei der normale Geruch der Welt. t.A.T.u. Mir scheint, als wäre es gestern gewesen. Pass auf Dich auf, junger Mann!