Metropole vs. Berge, Paris vs. Schweiz: Diese Dualität lässt sich in Alberto Giacomettis Werken erkennen und in einer neuen Ausstellung „Faces and Landscapes of Home“ ab dem 13. Dezember in St. Moritz bestaunen.

Düstere, überlange und ausgemergelte Körper, die wie Geister in den Raum starren und dem Existenzialismus der Fünfzigerjahre eine Form geben: Diese Skulpturen sind es, an die man bei dem Namen Alberto Giacometti als Erstes denkt. Weit unbekannter ist die Malerei, die der gebürtige Schweizer in dem abgeschiedenen Tal seiner Heimatstadt Stampa unweit vom Engadin auf die Leinwand brachte – oder gar die Fotografien, die ihn dort bei der Arbeit zeigen. Dabei konnte er zu Beginn seiner Laufbahn der Provinz und dem Dunstkreis seines Vaters gar nicht schnell genug entfliehen. Giovanni Giacometti, einer der prägenden Künstler der Schweizer Moderne, malte die alpine Welt Graubündens in leuchtenden Farben und expressiven Pinselschwüngen, und nichts lag Alberto ferner, als in seine Fußstapfen zu treten. 1922 ging er nach Paris, ins pulsierende Zentrum der Avantgarde, wo er zwischen Kubismus, Surrealismus und philosophischen Debatten seine eigene künstlerische Sprache fand.

Silsersee Alberto Giacometti .

Silsersee, Alberto Giacometti (1921-22).

Succession Alberto Giacometti / 2025, ProLitteris, ZurichAlberto Giacometti kommt nach Hause

Doch ganz so einfach lässt sich die eigene Herkunft dann doch nicht abstreifen. Ab den Fünfzigerjahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, kehrte Giacometti regelmäßig nach Stampa zurück. Das Atelier des Vaters nutzte er als Arbeitsplatz und porträtierte seine Mutter, seine Frau Annette und Dorfbewohner. Auch die Landschaft hielt er fest: Berge und Himmel wurden zu verdichteten, reduzierten Kompositionen, denen – wie auch seinen hageren Skulpturen – etwas Verletzliches anhaftet. Es ist diese Rückkehr zum Ort seiner Kindheit, der sich nun eine Ausstellung der Großgalerie Hauser & Wirth in St. Moritz widmet. Kuratiert von Tobia Bezzola, Direktor des Museo d’arte della Svizzera italiana und ausgewiesener Giacometti-Kenner, wird hier sichtbar, wie sehr die Schweizer Bergwelt Giacomettis skulpturalen Blick geprägt hat. Auch der Einfluss Cézannes kommt zum Tragen: Hatte Giacometti ihn als junger Künstler noch abgelehnt, da sich sein Vater an dessen Stil entlangbewegte, wird dessen strukturierte, räumlich komplexe Malweise aus einem gereiften, unabhängigen Geist heraus wieder wichtig. Der zeigt sich auch in den Zeichnungen vom Elternhaus: Stuben, Lampen und enge Räume voller Erinnerungen vermitteln eine existenzielle Intensität, als hätte sich der Künstler energetisch in die Räume hineingeschraubt.

Monte del Forno Alberto Giacometti

Monte del Forno, Alberto Giacometti (1923).

Succession Alberto Giacometti / 2025, ProLitteris, ZurichTête au long cou Alberto Giacometti

Tête au long cou, Alberto Giacometti (ca. 1949).

Jon Etter / Succession Alberto Giacometti / 2025, ProLitteris, ZurichZwischen Paris und der Schweiz

Tatsächlich tankte Giacometti in der Heimat auf, schlief viel, las und wanderte, was kein größerer Kontrast zu dem wilden Leben in der Metropole hätte sein können. Die Heimat wurde zur Kraftquelle und zum Refugium, wo ihn vorerst nur wenige Freunde aus Paris besuchten. Darunter war auch der Schweizer Fotograf Ernst Scheidegger. Giacometti hatte ihn 1943 in Genf kennengelernt, wohin er sich während des Krieges zurückgezogen hatte. Später gewährte er Scheidegger für Fotos Zutritt zu seinem Pariser Atelier, das für andere meist unzugänglich blieb, und lud ihn auch ins Bergell ein. Scheideggers Aufnahmen zeigen den Künstler dort bei der Arbeit, im Gespräch mit Einheimischen, in stiller Zweisamkeit mit der Mutter oder Annette – und erzählen von einer verborgenen, privaten Welt, die der Künstler im Innern nie verlassen hat. In den frühen Sechzigerjahren wurden Giacomettis Aufenthalte in der Schweiz immer länger. Er richtete das Atelier her und lud Freunde aus der Pariser Kunstszene ein, während er selbst bereits gesundheitlich angeschlagen war. 1966, kurz nachdem er mit dem Zug aus Paris angekommen war, wo er unter anderem mit Scheidegger die letzte Nacht in einer Bar verbracht hatte, starb er im Krankenhaus in Chur an den Auswirkungen einer chronischen Bronchitis. In Stampa warteten eine Reihe Porträtbüsten vergeblich auf ihre Vollendung.