Berlin liebt es, sich selbst als unmoderne Hauptstadt des Chaos zu inszenieren, während überall in der Stadt Projekte entstehen, die internationalen Metropolen locker das Wasser reichen. Nicht A100, nicht BVG, nicht BER: Berlin, deine größte Baustelle ist dein Selbstwertgefühl. Daran müssen wir unbedingt arbeiten.

HB Reavis Hub, Fahrradparkhaus

Innovatives Mobilitätskonzept an der Landsberger Allee: Die selbst entwickelten Ladesäulen für E-Bikes in der Tiefgarage hat sich Projektentwickler HB Reavis patentieren lassen. Die Bedienung erfolgt komfortabel über eine Chipkarte, das Fahrrad kann an den Säulen nicht nur geladen, sondern auch gleichzeitig angeschlossen werden. / © Foto: ENTWICKLUNGSSTADT

© Titelbild: Kieback&Peter GmbH & Co. KG  / Portrait: ENTWICKLUNGSSTADT

 

Berlin, wir müssen reden. Und zwar über dich. Nicht über deinen Nahverkehr, nicht über deine Schulen, nicht über deine Ämter – darüber reden wir schließlich ohnehin 24/7. Nein, heute geht es um dein Selbstbild. Dieses merkwürdig defätistische Grundrauschen, das es dir ermöglicht, gleichzeitig die coolste Stadt Europas und ihr größter Kritiker zu sein.

Frag einen Berliner, und er sagt dir: „Innovationen? Nicht hier! Wir kriegen ja nicht mal ein Formular online hin.“ Berlin bescheinigt sich selbst gern den technischen Entwicklungsstand eines gut sortierten Taschenrechners. Und gleichzeitig entstehen überall in der Stadt Projekte, die so modern, digital und ambitioniert sind, dass man sie problemlos nach Kopenhagen, Singapur oder San Francisco teleportieren könnte.

Das Berliner Selbstbild: Der Widerspruch könnte kaum größer sein

Fangen wir am besten da an, wo früher Blut geflossen ist: auf dem alten Schlachthof. Heute nennt sich das Areal „DSTRCT Berlin“, und dort wird urbane Mobilität entwickelt, die längst mehrfach ausgezeichnet worden ist – mit eigenem Fahrrad-Parkhaus und autofreiem Quartierskonzept. Sharing-Konzepte, digitale Steuerung, moderne Arbeitswelten – Berlin, das ist nicht rückständig. Das ist Mittelstands-Future in Echtzeit.

Oder dein smartester Würfel: der Cube Berlin. Ein Gebäude, das Nutzer erkennt, Wärme reguliert, Energie verteilt, Besucher leitet und sogar mitlernt. Man könnte meinen, du hast versehentlich ein Stück Silicon Valley importiert. Hast du aber nicht – du hast es selbst gebaut. Weiter geht’s zu einem Projekt, das noch nicht gebaut wurde, aber konkret geplant wird: der Parkturm am Hackeschen Markt. Ein Parkhaus, das Autos automatisch einsortiert. Es wird das erste Projekt seiner Art in Berlin sein, aber weitere sind schon in Vorbereitung, etwa am Platz der Vereinten Nationen in Friedrichshain.

Siemensstadt Square, EUREF Campus, digitaler Straßenbau und Geothermie am Spreeufer

Und dann ist da das Mammutprojekt Siemensstadt Square: Ausgelegt für 35.000 Menschen, entsteht ein komplett neues, vernetztes, energieeffizientes Quartier, das neben Wohnen und Arbeit auch Forschung, Produktion und Bildung integrieren will. Mehr als 600 Millionen Euro investiert der Siemens-Konzern in das neue Quartier, und der Berliner Senat reaktiviert im Gegenzug die historische Siemensbahn. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein, aber es wird bereits konkret daran gearbeitet.

Berlin, selbst dein Straßen- und Tiefbau ist längst digitaler, als du es selbst wahrhaben willst: Maschinen, die per GPS gesteuert werden. Leitungen, die digital dokumentiert werden. Baugruben, die in 3D geplant werden. Berliner Firmen wie Dalhoff zeigen, wie moderne Bauprozesse aussehen. Gleichzeitig wurde ein nachhaltiger Straßenbelag entwickelt, der kürzlich auch im Rahmen der „Neustart“-Veranstaltung im Gasometer in Berlin-Schöneberg präsentiert wurde.

In Berlin werden Industriebrachen zu Innovationscampus entwickelt, an vielen Stellen der Stadt

Apropos Gasometer in Schöneberg: Vom Denkmal zum Innovationscampus, von der Industriebrache zum Erfolgsmodell. Ein Berliner Ort, der beweist, wie Transformation funktionieren kann, ohne die Geschichte zu begraben – allen Unkenrufen zum Trotz, die den Umbau des Gebäudes lange Jahre verhindern wollten. Heute finden sich dort Büro- und Veranstaltungsflächen, Workspaces und eine Dachterrasse mit atemberaubendem Blick über die Hauptstadt.

Auch in Oberschöneweide geht es voran, an vielen unterschiedlichen Standorten: Das „BE-U“-Projekt ist eines von mehreren Projekten. Es verbindet historische Industriearchitektur mit Zukunftsthemen wie digitaler Produktion – ein Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammenarbeiten, statt gegeneinander. Und die Energie für das Areal soll aus Geothermie gewonnen werden, und zwar im Großformat. Dafür wird kräftig in das Vorhaben investiert.

Derlei Orte gibt es viele in Berlin, bestehende und solche, die es noch werden wollen: Der Technologiepark Adlershof, der Medizincampus Buch, das Quartier „CleanTech Marzahn“, der Technologiepark Humboldthain. Auch Europas größtes Wohnquartier in Holzbauweise soll ab dem kommenden Jahr auf dem Areal des ehemaligen Flughafens Tegel gebaut werden, die ersten 328 von zukünftig 5.000 Wohnungen werden errichtet.

Nicht A100, nicht BVG, nicht BER: Berlin, deine größte Baustelle ist dein Selbstwertgefühl

Berlin, deine größte Baustelle ist nicht die A100, die BVG oder der BER. Es ist dein Selbstwertgefühl. Du bist nicht rückständig. Du bist im Umbau, und zwar fortwährend. Und das ist ein Unterschied.

Und natürlich gibt es Probleme, die angegangen werden müssen, allen voran die öffentliche Verwaltung, marode Straßen und Brücken, fehlende Lehrer an Berlins Schulen. Das sind allerdings Probleme, die es in vielen anderen Städten Deutschlands auch gibt. Und es gibt positive Gegenbeispiele. Waren Sie kürzlich mal auf dem Bürgeramt? Vermutlich schon, denn die Terminvergabe funktioniert mittlerweile ziemlich reibungslos, digital und ohne lange Wartezeiten. Wie kommt es?

Berlin hat das Problem mit den Bürgerämtern gelöst, aber niemand berichtet darüber

Nachdem seit mehr als einem Jahrzehnt fast täglich in den Gazetten der Hauptstadt (berechtigterweise) darüber berichtet wurde, wie haltlos die Situation der Berliner Bürgerämter war und dass man kaum an Termine kam, ist es nun erstaunlich still um das Thema, denn der Berliner Senat hat das Problem ganz offenbar gelöst, ohne viel Aufhebens. Das allerdings ist natürlich viel zu langweilig, um ausführlich darüber zu berichten. Only bad news are good news, der alte Journalisten-Trick verfängt vor allem in Berlin immer noch besonders gut.

Berlin, zähle auch mal deine Fortschritte, statt immer nur die Probleme

Also Berlin, warum denn so negativ? Vielleicht wäre es Zeit, dass du anfängst, nicht nur deine Probleme zu zählen, sondern auch deine Fortschritte.

Denn die Wahrheit ist doch: Berlin, du bist moderner, als du denkst. Und viel besser, als du dir selbst zugestehst. Nicht immer und überall, aber immer öfter. 

 

 

 

Zuletzt in der Kolumne „Warum so negativ, Berlin?“ von ENTWICKLUNGSSTADT-Chefredakteur Björn Leffler: „Berlin, warum machste Dir so klein? Olympia passt wie Faust aufs Auge“