Daniel Richter stellt sich vor eines seiner Gemälde, die in der Regel rund 230 mal 170 Zentimeter messen. Um zu demonstrieren, warum genau dies sein Idealformat ist, tut der hochgewachsene Maler so, als würde er gerade den Pinsel schwingen. Sofort wird klar: Bildgröße und Künstlerkörper passen perfekt zusammen, denn Richter kann ohne größere Anstrengung jede Stelle auf der Leinwand erreichen, hat zudem stets die gesamte Bildfläche im Blick. Das Format, erklärt er, entspreche seinen „physischen und geistigen Fähigkeiten“.
Malerei zwischen Figuration und Abstraktion
Das 2025 entstandene Bild, vor dem Richter seine Arbeitsweise vorführt, heißt „Der müde Geiger“. Wer den Titel kennt, meint, die vibrierende Violine zu sehen und die Erschöpfung des Musikers zu spüren. Lebensgroße Gestalten agieren in der jüngsten Werkgruppe des Malers vor gefleckten Hintergründen in leuchtenden Farben. „Ich bin aus Versehen Expressionist geworden, das war gar nicht meine Absicht“, sagt der 1962 in Eutin geborene Maler. Die Ausstellung „Daniel Richter. Torf – Malerei zwischen Figuration und Abstraktion“, die vom 10. Dezember an die Reithalle auf Schloss Gottorf bespielt, führt den expressiven Charakter der Werke vor. Geballte Farbigkeit trifft auf dynamisches Personal.
Zu sehen sind in Schleswig knapp 60 Werke, darunter kleinformatige, düstere Bilder aus der Zeit von 1999 bis 2010, deren geisterhafte Motive laut Richter keine große Leinwand gefüllt hätten. Der Schwerpunkt der Schau liegt auf den idealgroßen, farbintensiven Figurenkompositionen des letzten Jahrzehnts, das sich in verschiedene Schaffensphasen unterteilen lässt. Richter, der in den 1990er-Jahren an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste bei Werner Büttner studierte und heute zu den erfolgreichsten deutschen Gegenwartskünstlern gehört, sucht sich immer wieder neue Herausforderungen. „Ich langweile mich ziemlich schnell“, erklärt der Malerstar, es sei sein Ziel, „Lösungen zu finden für unbekannte Aufgabenstellungen“.
„Es ist nicht gefällig, was Richter macht“
Eine Konstante ist der Dialog zwischen den sich stetig wandelnden Hintergründen und den surreal verfremdeten Gestalten davor, die ihre Emotionen und Obsessionen ausleben. Es sind gepeinigte, verletzte, einander verletzende Figuren, deren Inneres im wahren Wortsinn sichtbar wird: manchmal quellen Organe aus Wunden hervor, zuweilen strömt Blut aus den gemalten Leibern. Die heitere, verlockende Farbgebung tarnt die prekäre Situation dieser allzu menschlichen Wesen: „Es ist nicht gefällig, was Richter macht“, sagt Carsten Fleischhauer, der die Schleswiger Schau kuratiert hat.
Jede Werkphase unterscheidet sich von der vorherigen durch neue Merkmale, doch „jede Gruppe bezieht sich auf die Gruppe zuvor“, erläutert Daniel Richter. Zunächst sind da die seit 2015 entstandenen, von Pornografie inspirierten Gemälde, deren Bildgrund von Farbverläufen geprägt ist. Der Maler empfindet sie als „durchsichtig, zierlicher, ängstlicher, weil ich die Wirkung nicht abschätzen konnte. Ich sehe das Zögern darin wirklich stark“. Diese Arbeiten sind ihm wichtig, denn sie bedeuteten damals einen Bruch mit dem Vorangegangenen: Mit Richters riesengroßen Historienbildern, von denen er sich ebenso abwandte, wie er sich zuvor, um die Jahrtausendwende, auch von der Abstraktion distanziert hatte.
Anregung: Ein Foto aus dem Jahre 1915
Obwohl die Schau nicht chronologisch aufgebaut ist, lässt sich die Metamorphose der formalen Merkmale nachvollziehen. Die Farbverläufe werden zunächst monochrom, dann bildet sich auf jedem Gemälde ein Horizont aus, an dem zwei Farbblöcke aufeinanderprallen. Die folgenden Arbeiten sind von einem strengen, schwarz-weißen Raster hinterlegt, vor dem die Haltlosigkeit der farbenfrohen Gestalten noch krasser wirkt. In einer weiteren Phase bekommt Richters Personal Krücken an die Hand, auf die es seine versehrten Körper stützen kann. Zugleich strukturieren die linearen Laufhilfen die Bildfläche.
Zur Krücken-Metapher wurde Richter durch ein Foto von 1915 angeregt. Die historische Aufnahme zeigt zwei deutsche Kriegsinvaliden im schwedischen Haparanda: Während des Ersten Weltkriegs tauschten Russland und Deutschland schwerstversehrte Kriegsgefangene über eine Route aus, die durch das neutrale Schweden verlief. Die beiden Soldaten auf der Fotografie haben jeweils ein Bein verloren und bewegen sich mit Achselkrücken mühsam voran. „Eben zogen sie noch begeistert in den Krieg und schon gingen sie als Krüppel betteln“, sagt Richter. Die Tristesse der Szene überträgt er in grellbunte Bilder, holt sie in die Gegenwart, variiert sie immer wieder. Die Figur auf dem Gemälde „Selbst mit Krücken“ zum Beispiel hat er mit vier Stützen ausgestattet, die nicht nur ihre Beine, sondern auch die Arme ersetzen – einen Pinsel zu führen, dürfte ihr schwerfallen.
Heimatlose Seele auf dem Weg ins Nichts
Mit seinem tiefgründigen Werk kurbelt der Maler, in dieser Hinsicht eher Surrealist als Expressionist, die Assoziationsfähigkeit der Betrachter an und schickt ihre Vorstellungkraft auf die Reise; gut möglich, dass am Wegesrand Abgründe und Albträume lauern. Seine Titel, sofern vorhanden, weisen eine Tendenz zum Trostlosen auf: „Ratschläge, nutzlos“, heißt ein rosagrundiges Gemälde mit einer großen – selbstgerechten –, und einer kleinen – unbelehrbaren – jeweils monsterhaft verzerrten Gestalt, während die personifizierte „Seele, heimatlos etc.“ mit großen Schritten in ein alarmrotes, haltloses Nichts marschiert. „Bei der Interpretation seiner Werke hält sich der Künstler ganz klar heraus“, so Fleischhauer. Interessiert hört Daniel Richter sich die Deutungen der Betrachter an, etwa zum Bild „Unter Birnen“, das zu der aktuellen Gruppe zählt: Ein flügelschlagender Engel schwebt auf einer Wolke über einen gestirnten Himmel. Oder: Ein Mann tanzt durch einen Garten, während um ihn herum reife Birnen zu Boden fallen. „Das dürfen Sie gerne so sehen“, sagt der Maler freundlich und fügt hinzu, dies sei „das einzige Bild, das ein bisschen gute Laune evoziert“.
Wo Deutungen fehlen, erlaubt die Musik, die Richter seinen Werken zuordnet, die er beim Arbeiten aufdreht und die im Museum per QR-Code abrufbar ist, eine Annäherung: Da sind etwa die Kompositionen von Dmitri Schostakowitsch zu hören, da treiben Reggae-Rhythmen oder auch Punkrock die Fantasie voran. Der Künstler ist seit seiner in Ostholstein verbrachten Jugend, in der er der Punk-Szene angehörte, mit der Musik verbunden. Als junger Maler in Hamburg, unterwegs im linksautonomen Milieu, gestaltete Richter Plattencover und Plakate für Punkbands wie „Die Goldenen Zitronen“. 2005 wurde er Inhaber des Independent-Plattenlabels Buback.
Politischer Künstler, kritischer Zeitgenosse
Seine gesellschaftskritische Haltung hat der Maler, wie seine Bilder beweisen, beibehalten. „Die Verweigerung der glatten Geste zieht sich durch Richters Werk. Er war nie interessiert an eindeutig lesbaren, politischen Botschaften; gleichwohl ist er ein politischer Künstler im Sinne einer kritischen Zeitgenossenschaft“, erklärt Thorsten Sadowsky, Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesmuseen auf Schloss Gottorf. Dort würdigt die Ausstellung den in Lütjenburg aufgewachsenen Maler, der heute als Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien unterrichtet, anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Schleswig-Holsteinischen Wirtschaft.
Schloss Gottorf: „Daniel Richter. Torf – Malerei zwischen Figuration und Abstraktion“, bis 15. Februar 2026