Offene Raumkonzepte galten lange als Inbegriff des modernen Wohnens. Doch heute sehnen sich viele Menschen wieder nach mehr Privatsphäre – und möchten auch nicht vom Sofa aus die ungespülten Teller und Töpfe in der Designerküche sehen.

In der Tragikomödie „Die Rosenschlacht“, die gerade im Kino lief, zückt die erfolgreiche Köchin Ivy (Olivia Colman), im Streit mit Ehemann Theo (Benedict Cumberbatch), einem ehemals erfolgreichen Architekten, einen Revolver. Sie schießt dabei auf den modernen Bubble-Kronleuchter über dem gigantischen Esstisch, der in unzählige Stücke zerbirst.

Die Szene spielt sich im offenen Küchen-Wohn-Essbereich in einem beeindruckenden Designer-Haus ab – Theo hat es selbst gebaut – und bildet den vorläufigen Höhepunkt einer unerbittlich geführten Scheidungsschlacht, bei der auch Orangen über die Kücheninsel gepfeffert werden und man froh ist, dass nicht die Messer, die im Hintergrund zu sehen sind, als Wurfobjekte dienen. Längst ist der idyllische Familienraum zum Kriegsschauplatz geworden.

Ein Haus mit fließendem Raumkonzept ist seit Jahrzehnten der Inbegriff zeitgenössischen, stilvollen Wohnens. Ein offener Grundriss wird in vielen Immobilienanzeigen als Highlight angepriesen, dient als Verkaufsargument. Neubauten gibt es fast ausschließlich in dieser Raumaufteilung.

Die Idee hinter dieser Architektur ist verlockend und wirkt auf Bildern so harmonisch: Die ganze Familie zusammen in einem Raum, ein Kind spielt auf dem Boden wahlweise mit seinem Holztier-Bauernhof oder mit dem Barbie-Schloss, das andere macht am überlangen Esstisch seine Hausaufgaben. Der Gast trinkt an der Theke der obligatorischen Kücheninsel gemütlich seinen Kaffee, den der Hausherr oder die Hausherrin mal eben Barista-like mit der Siebträger-Maschine zubereitet hat.

Doch ist ein wandloses Wohnen wirklich so erstrebenswert, wie es in den vergangenen Jahrzehnten propagiert wurde? Spätestens, wenn der Gast über Nacht bleibt und auf der Couch nächtigt, würde er sich über eine Tür zwischen Wohnzimmer und Küche freuen.

Das positive Image des offenen Grundrisses bröckelt spätestens seit Corona gewaltig. In den sozialen Medien werden Stimmen lauter, die sich gegen dieses Wohnkonzept stellen. Es gaukle mehr Platz vor, als tatsächlich vorhanden sei, sei schwierig einzurichten, und vor allen Dingen, schlecht für die mentale Gesundheit.

Zwei von vielen Beispielen: Auf TikTok postet eine Nutzerin namens Linda auf dem Konto „Lindaa.Lauraa“ ein kurzes Video mit dem Titel „Offene Küche wird schon nicht schlimm sein“. Vom Sofa aus blickt sie auf die offene Küchenzeile mit lärmender und tropfender Spülmaschine. Sie fühle sich wie im Dschungel, schreibt sie. Das Video geht viral.

Viele wünschen sich klar definierte Räume

Auch der amerikanische „Hard Money Guy“ auf TikTok, der angibt, Architektur studiert zu haben, ist kein Fan dieser Raumplanung: „R.i.p. – Offene Grundrisse sterben gerade“ beginnt er seinen Monolog, in dem er sich über das Wohnkonzept echauffiert. Ein anderes Video von ihm zum gleichen Thema wurde mehr als 4,6 Millionen mal abgespielt.

In neuen Häusern mit massiv viel Platz gäbe es statt separater Räume bombastische Küche-Ess-Wohnbereiche. Für ihn sei das einfach nur faules Design und schlechter Geschmack. „Wann kamen wir auf die Idee, unsere gemütlichen Wohnzimmer mit Küchen zu verbinden, wo es nach Öl stinkt und chaotisch aussieht?“ Besser für die Aura eines Zuhauses sei es, die Kochstelle außer Sichtweite zu platzieren.

In den Kommentaren seines Posts bekriegen sich die Pro-und-Kontra-offene-Grundrisse-Lager ähnlich wie Colman und Cumberbatch in ihrem loftartigen Küche-Ess-Wohnzimmer. Die einen wollen nur luftig leben, werfen dem TikToker vor, wohl keine Kinder zu haben, denn offene Küchen seien für junge Familien praktisch. „Als Mutter wollte ich nicht einsam in der Küche stehen, und deswegen habe ich unseren Neubau mit offener Küche konzipiert“, schreibt eine Nutzerin.

Andere Kommentatoren hassen ihren offenen Grundriss und wünschen sich klar definierte Räume, am liebsten schallisoliert, wo sie sich auch mal zurückziehen können und außerdem nicht die Bratkartoffeln oder den gerösteten Blumenkohl à la Ottolenghi vom Abend davor riechen müssen.

„Das Zusammenleben wird anstrengend, wenn es keine Rückzugsbereiche mehr gibt“, sagte der Münchner Wohnexperte und Psychotherapeut Uwe Linke in einem Interview. Die Küche sei auch immer ein Ort, an dem intime Gespräche stattfinden. In seinem Buch „Die Psychologie des Wohnens“ (Nymphenburger) schreibt er, Privatheit sei ein seelisches Grundbedürfnis, überdies strukturierten Räume unser Denken.

Der Flughafen-Effekt

In offenen Wohnräumen können sich Menschen beobachtet und unruhig fühlen, erklärt auch der New Yorker Architekt Adam Rolston in einem Artikel der britischen Wohnzeitschrift „House & Garden“. Er nennt das Phänomen den „Flughafen-Effekt“. Es ist ähnlich wie mit Großraumbüros, die in den letzten Jahren ebenfalls in Verruf geraten sind.

„In die Büroflächen werden heute oft wieder Besprechungsräume oder sogar teure Telefon-Kabinen nachträglich eingebaut, weil Firmen merken, dass es eben doch viel Unruhe bringt, wenn alles im Open Space stattfindet“, sagt der Münchner Innenarchitekt Sebastian Zenker, von der deutschen Ausgabe des Interior-Magazins „AD“ zu den „wichtigsten Kreativen“ gekürt, am Telefon.

Oft ist die Toilette anscheinend der letzte Ruhepol. Im Netz kursiert ein skurriler Trend, genannt „Bathroom Camping“. Wenn sich Menschen der Generation Z „überstimuliert“ fühlen, ziehen sie sich in das nächste Badezimmer zurück, um dort beim Scrollen auf dem Handy wieder runterzukommen.

Und so wenden sich immer mehr Architekten von offenen Wohn-Esszimmer-Küchen-Grundrissen ab und lassen sich von einer Zeit inspirieren, als Küchen verschließbare Arbeitsräume waren, in denen es auch mal chaotisch sein und intensiv riechen durfte.

Der in Berlin ansässige, mehrfach ausgezeichnete Architekt und Interiordesigner Fabian Freytag, Kolumnist bei WELT, plädierte jüngst für die Abkehr von komplett offenen Küchen, die ins Wohnzimmer übergehen, und für die Rückkehr zu echten Wohnküchen: „Wenn es um die Entwicklung der Feuerstelle der Neuzeit geht, gibt es einen Trend: Die Küche wird wieder zum eigenen Raum, manchmal mit Esstisch – was ich großartig finde. Sie trennt sich vom Wohnzimmer, wird kleingliedriger.“

Kücheneckbank statt Kücheninsel

Die Designerinnen Melissa Antonius und Lena Schimmelbusch vom Berliner Inneneinrichtungsstudio Antonius Schimmelbusch sehen das ähnlich: „Offene Küchen schließen sich wieder, sie müssen nicht mehr so sehr Statussymbol sein“, werden sie in der Zeitschrift „AD“ zitiert. Statt auf Barhockern an Inseln würde man wieder gemütlich in Küchenecken sitzen. Sogar in kleinen, gut geplanten Küchen sei das möglich.

Innenarchitekt Sebastian Zenker wiederum möchte sich nicht komplett von offenen Küchenkonzepten verabschieden. Wenn gern gekocht würde, dürfe die Küche natürlich Teil des Wohnbereichs sein – vor allem, wenn es ausreichend Platz gebe. Nehme man am Esstisch Platz, solle man aber bitte nicht das Gefühl haben, schon halb auf dem Sofa zu sitzen. In einer kleinen Wohnung mit kompliziertem Grundriss in München-Schwabing, die er zuletzt für die Ausstellungsserie „New Perspectives“ der „AD“ gestaltete, setzte er die Küche in einen schmalen Durchgang.

„Wir wollten nicht, dass man mit dem Kopf in der Küche schläft oder das Schlafzimmer mit im Wohnbereich ist, wie man es aus Studentenwohnungen kennt“, sagte er. Wenn Geruch und Lärm nicht stören, man aber doch eine optische Trennung zwischen Küche und Wohnraum wünscht, empfiehlt Sebastian Zenker Regalsysteme, Vorhänge oder auch einen offenen Kamin, der als Raumteiler fungiert.

Die Idee, das offen gestaltete Zuhause optisch durch semipermanente Raumtrenner in Wohnzonen zu untergliedern, hat einen Namen: Broken-Plan-Grundriss. Dieser soll eine Option für all diejenigen sein, die Platzangst in zu kleinen Zimmern bekommen, sich aber ebenso nach Privatsphäre in offen gestalteten Flächen sehnen.

Raumtrenner können auch Glasbausteinwände sein oder – sehr futuristisch und gleichzeitig sehr flexibel – deckenhohe, ziehharmonikaartige Faltwände, aus farbigem und silberglänzendem Vinyl, abgestimmt auf die Farbe des Fußbodenbelags. Solche Raumteiler installierte das griechische Architektenpaar Eleni Petaloti und Leonidas Trampoukis von Designstudio „Objects of common interest“ in seinem über 120 Jahre alten Townhouse in Brooklyn, das es in ein lichtdurchflutetes Loft verwandelt hat. In der „New York Times“ sagten sie, sie seien ständig mit ihren zwei kleinen Kindern zusammen und hätten darauf geachtet, dass jedes Familienmitglied genügend Privatsphäre bekomme.

En vogue ist ebenfalls – für all jene, die über den Luxus von viel Platz verfügen – eine doppelte Küchenlösung. Die Gäste werden mit einer aufgeräumten Showküche beeindruckt, die sich nahtlos ins Wohndesign einfügt, und in der Hinterküche, auch Vorbereitungsküche genannt, geschieht alles, was nicht so ansehnlich ist und gut duftet. Auch die uncoolen Küchengeräte finden dort ihren Platz. Aus einer solchen Hinterküche fiele das Zielen auf den imposanten Leuchter über dem Esstisch wie in der „Rosenschlacht“ dann auch deutlich schwerer. Aber wenn die Stimmung im Keller ist, hilft auch der perfekt konzipierte Grundriss nicht mehr.