Leipzig. Norbert Lammert würdigt nicht den Musiker von Weltgeltung. „Da sitzen“, sagt er am frühen Samstagabend in den gestopft vollen Mendelssohn-Saal des Gewandhauses, „viele Zeitzeugen im Saal, die das besser können als ich“.
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Da hat der Bundestagspräsident a. D. recht. Denn wer kommen konnte von Kurt Masurs musikalischen, gesellschaftlichen, persönlichen Weggefährten, ist da. Natürlich auch Familie: Tomoko Masur sitzt in der ersten Reihe, der gemeinsame Sohn Ken-David daneben. Dazu ganze Generationen von Repräsentanten des Leipziger Musiklebens von früher und heute. Sie alle wissen um die Bedeutung des Dirigenten, der am 19. Dezember 2015 starb.
Unvergessen auch jenseits von Leipzig und der Musik
Drum befasst sich Lammerts beeindruckende Ansprache im Zentrum des Gedenkkonzertes zum 10. Todestag mit dem „Großen Deutschen Staatsbürger“ Kurt Masur. Der sei auch bei denen nicht vergessen, „die sich weder für Leipzig noch für Musik interessieren, was erstens möglich ist und zweitens verfassungsrechtlich erlaubt“.
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Natürlich kommt er nicht an der Rolle vorbei, die Masur im Herbst 1989 spielte, der auch wegen seiner besonnenen Initiative ohne Blutvergießen in eine neue Zeit mündete. Und dass es ohne Kurt Masur in Leipzig nicht das Gewandhaus gäbe, in dem er nun sprechen darf, das verschweigt er ebenfalls nicht.
„Das ist nicht der Normalzustand“
Aber es geht in dieser Rede nicht um Einzelleistungen, seien sie noch so bewundernswert. Norbert Lammert preist Kurt Masur als Menschen, der die Aufgaben annahm, die die Weltläufte ihm stellten, der die Initiative ergriff, sein Charisma, seinen Einfluss, ja, seine Macht in den Dienst der Freiheit stellte.

„Weder Einigkeit noch Recht noch Freiheit ist ein Naturzustand“, sagt Lammert. „Sie müssen erarbeitet werden. Und wenn sie erarbeitet sind, müssen sie erhalten werden. Denn sie erhalten sich nicht selbst.“ Doch hätten mittlerweile zwei Generationen keine anderen gesellschaftlichen Zustände kennengelernt als diese – und schlössen daraus messerscharf: „das ist der Normalzustand“. Er ist es nicht. „Nur zehn Prozent der acht Milliarden Erdenbewohner haben das Privileg, unter diesen Bedingungen leben und arbeiten zu können.“ Und vieles von dem, was Kurt Masur „und ungezählte andere, Prominente wie Unbekannte, für uns erreichten“, ist wieder gefährdet.
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Bundesrepublikanischer Demokrat alter Schule
Und darum brauchen wir wieder Persönlichkeiten wie Kurt Masur. Persönlichkeiten mit Haltung, Persönlichkeiten, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Die nicht den bequemen Weg gehen, sondern den richtigen suchen. Langer und bewegter Applaus für diesen bundesrepublikanischen Demokraten alter Schule. Nicht wenige im Saal werden bei sich gedacht haben: Und von solchen Persönlichkeiten wie diesem Lammert bräuchten wir auch wieder mehr.

Vor und nach diesen Worten kommt im Mendelssohn-Saal die Musik zu Wort. Das Gewandhaus Quartett mit Frank-Michael Erben, den Masur 1986 ins Gewandhausorchester holte, Yun-Jin Cho, Vincent Aucante und Isang Enders beginnt den Vorabend mit Beethovens G-Dur-Streichquartett Opus 18/2. Eine klassische Sinfonie für vier Spieler, logisch, sinnlich, lichtdurchflutet, fintenreich. Und so spielen es die vier sehr unterschiedlichen Quartettmitglieder, der glänzende Erben, die unbedingt souveräne Cho, der feine Aucante, der leidenschaftliche Enders, als musikalischen Debatte mit einendem Erkenntnisgewinn in Schönheit.
Ausdruck und Bedeutung
Masur hätte das gefallen. Und wohl noch mehr Schostakowitschs g-moll-Klavierquintett Opus 57. Hier hilft seine langjährige musikalische Weggefährtin Elisabeth Leonskaja dem Leipziger Streichquartett bei der rückhaltlosen Suche nach Ausdruck und Bedeutung.
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Am anderen Ende des Gedenknachmittags war es bei allem Ernst lockerer zugegangen: Im aus allen Nähten platzenden Leo-Schwarz-Foyer plauderten am Nachmittag Ken David Masur, Gewandhausdirektor Andreas Schulz und die Geigerin Carolin Widman mit Gero von Boehm über Kurt Masur. Den Menschen, den Musiker, den Vater, den Patriarchen. Und auch hier zeigte sich bereits, dass Lammert selbstredend recht hat: Kurt Masur ist zehn Jahre nach seinem Tod nicht vergessen. Allerdings interessieren sich hier im Saal alle für Leipzig. Oder für Musik. Oder für beides.
LVZ