Leipzig. Geschichte hat immer mit Quellen zu tun. Und mit Sammeln. Also mit Suchen, Geduld – und Neugier. „Wer einmal anfängt, Fragen zu stellen, stößt auf immer neue Fragen“, sagt Ralph Nünthel. Einer mit Neugier und Geduld. Einer, der aber auch gleich wieder einschränkt: „Ein manischer Sammler bin ich trotzdem nicht.“
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Allerdings ist er einer, der so gut wie kaum ein Zweiter über die Vergangenheit der Leipziger Kinos Bescheid weiß. Zwei Bücher hat er dazu bereits geschrieben: eines übers alte Kino „UT Connewitz“ und eines über den Leipziger Johannes Nitzsche (187-1947), Filmtechniker, Filmproduzent, Verleiher. Die Nähe von Ralph Nünthel zum Kino ist kein Zufall. Sie ist berufsbedingt.
Hobby zum Beruf gemacht
Er ist Filmvorführer. Was in der Lehrlingszeit im Lehrlingsheim begann und im Kreis Torgau weiterging, endete nach dem Chemie-Studium und dem Wendebruch im neu gegründeten Kino im Grassi: „Da habe ich die Chance ergriffen – und mein Hobby zum Beruf gemacht.“ Inzwischen ist Ralph Nünthel schon lange einer, ohne den das Passage Kino nicht denkbar wäre.
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Einer mit einem privaten Kino-Archiv. Einer, der Programmhefte sammelt, die es früher zu jedem Film gab. Wer das weiß – und in Leipzig gibt es ja durch die jahrzehntealte Film-Literatur-Messe ein Netzwerk, kommt auch mal mit Material zu ihm. So begann alles mit seinem dritten Buch: „Das Programm von heute“.
Eine mühsame Arbeit
Wer über das deutsche Kino der Vergangenheit forscht und schreibt, redet meist nur über den „Illustrierten Film-Kurier“. Dass es daneben noch eine weitere Programmheft-Reihe gab, bleibt ausgeblendet. Bis Ralph Nünthel sie jetzt aus diesem Dunkel geholt hat. Unter den Stapeln von „Film-Kurieren“, die ihm immer mal wieder gebracht wurden, lag oft auch „Das Programm von heute“. So was weckt Interesse: „Als ich gesehen habe, dass sie nummeriert waren, habe ich angefangen zu recherchieren, aber nichts gefunden.“ So begann die Suche.
Eine mühsame Arbeit. Eine Arbeit, die sechs Jahre dauerte: „Es gab nichts, keinerlei Überlieferungen.“ Hinzu kam, dass die Firma, die „Das Programm von heute“ herausgab, zweimal umzog, die Aufmachungen, die Druckereien, der Besitzer wechselten – und die ersten Hefte nur geringe Auflagen besaßen. Also klapperte Ralph Nünthel mit einem Partner Archive ab, digital und persönlich. Am Ende listete er 900 nummerierte, über 700 unnummerierte Ausgaben auf, die zwischen 1933 und 1945 gedruckt wurden. „Ein paar Lücken sind bestimmt geblieben.“
Film-Archiv der 30er und 40er
Das Besondere an „Das Programm von heute“: Von Anfang an gab es auf der Titelseite Star-Postkarten zum Herausnehmen. Für Käufer ein gutes Angebot. Das Heft mit Filmfotos, Filminhalt, Stabliste, kostete zehn Pfennig, die Star-Postkarte ohne Heft beim Ross-Verlag, dem Rechte-Monopolisten, 15 Pfennig. So kann man mit diesen Programmheften die Filmproduktion der Nazi-Jahre bestens rekonstruieren. Nur 50 bis 60, so glaubt Ralph Nünthel, fehlen. Die Gründe? Verschieden.
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Kam einer der Erfolgsfilme erneut ins Kino, feierte „Das Programm von heute“ die Reprise mit einer neuen veränderten Ausgabe. Das war so mit dem nordischen Hans-Albers-Drama „Peer Gynt“ (1934). Oder mit den „Donaumelodien“ (1936), dem Schiffer-Lustspiel. Eine Rarität ist das Heft von „So ein Flegel“ (1934), der ersten „Feuerzangenbowle“-Adaption. Einen „Illustrierten Film-Kurier“ gibt es dazu nämlich nicht. „Da ist noch viel Forschungsbedarf. Viele Filme aus den 30er und 40ern findet man nur, weil es Filmprogramme gibt. Wenn es dieses Stück Papier nicht gäbe, sähe es oft trübe aus.“
Das aufwendig mit vielen Abbildungen bestückte Buch ist allerdings keines, das nur die Programmsammler im Blick hat. „Es richtet sich an alle, die filmgeschichtlich interessiert sind“, sagt Ralph Nünthel. Es erzählt ja auch vom Kriegsbeginn in den Leipziger Kinos. Oder von Hans Hammer, Filmproduzent, Verleiher und überzeugter Nazi. Dessen kostspieligen Kauf von „Die Elenden“ (1934) aus Frankreich verboten die eigenen Parteigenossen trotzdem. Davon erholte sich die Firma nie mehr.
Inzwischen denkt Ralph Nünthel schon wieder an ein neues Buch. „Vieles spukt mir im Kopf herum“, sagt er. Etwa die Filmproduktion in Leipzig in den 20er Jahren – mit der Orientfilm im Zentrum. Die gehört mit „Salem Aleikum“ oder „Topf und Turban“ durchaus zur deutschen Filmgeschichte – und besaß sicher einen Fundus: „Nicht alles ist verloren gegangen. Aber da muss man suchen.“ Erst vor kurzem tauchten im Filminstitut in Italien Fotos auf. Angeschrieben in Leipzig wurde: Ralph Nünthel.
Info: Ralph Nünthel „Das Programm von heute. Die Entstehung und Entwicklung einer fast in Vergessenheit geratenen Filmprogramm-Reihe“, Engelsdorfer Verlag, 480 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 38 Euro
LVZ