Um drei Uhr in der Nacht von Donnerstag auf Freitag endet in Brüssel ein Schauspiel, das europäische Einigkeit und Entschlossenheit demonstrieren sollte. Fünf Stunden ringen die EU-Staats- und Regierungschefs um 90 Milliarden Euro für die Ukraine. Das Geld kommt am Ende. Doch der Weg dorthin legt die Misere des Kontinents offen. Bundeskanzler Friedrich Merz will eingefrorenes russisches Zentralbankvermögen als Sicherheit nutzen. Emmanuel Macron lässt ihn im entscheidenden Moment fallen. Stattdessen beschließt die EU gemeinsame Schulden: Eurobonds – und übertritt ausgerechnet jene rote Linie, die Deutschland jahrelang gezogen hat.
Für 90 Milliarden Euro beweist Europa, wie zerstritten es ist. Zwei unpopuläre Anführer simulieren Führung und rammen sich gegenseitig das Messer in den Rücken. Das friedensverwöhnte Europa will mit diesem Gipfel seinen Platz am Verhandlungstisch sichern und Relevanz in der Ukraine-Krise zeigen. Stattdessen liefert es Wladimir Putin den Beweis, dass er nur warten muss.
Macrons „Dolchstoß“ hinter verschlossenen Türen
Öffentlich schweigt der französische Präsident zu Merz’ Vorschlag, die 210 Milliarden Euro eingefrorener russischer Vermögenswerte für ein Reparationsdarlehen zu nutzen. Hinter den Kulissen torpediert sein Team den Plan systematisch. Rechtliche Bedenken dienen als Vorwand, Frankreichs hohe Schuldenlast als Argument: Das Land könne keine nationalen Garantien übernehmen, falls die Vermögenswerte zurückgegeben werden müssten.
Als Belgien, wo der Großteil der russischen Gelder bei Euroclear liegt, sich querstellt und Italien unter Giorgia Meloni folgt, reiht sich auch Macron ein. Die Financial Times zitiert einen ranghohen EU-Diplomaten: „Macron verrät Merz, und er weiß, dass das einen Preis haben wird. Aber er ist so schwach, dass er keine andere Wahl hat, als sich hinter Meloni einzureihen.“
Der belgische Ministerpräsident Bart De Wever, 15 Jahre jünger als Merz und nach der Nachtsitzung sichtlich ausgeruht, kommentiert den deutschen Vorschlag mit kaum verhohlener Häme: Er sei „wie ein Schiff gesunken“, „so kompliziert, so riskant, so gefährlich“. Die Vernunft habe gesiegt. Eine Ohrfeige für den Kanzler, als Sachargument getarnt.
Macron hingegen strahlt. „Zum ersten Mal akzeptieren wir, gemeinsam Geld aufzunehmen, um es der Ukraine zu leihen“, sagt er. Das sei „ein wichtiger Fortschritt“. Das Wort „Eurobonds“ nimmt er nicht in den Mund, das muss er auch nicht. Jeder versteht, was passiert ist: Deutschland kapituliert.
Merz redet sich die Niederlage schön – niemand glaubt ihm
Als der Kanzler vor die Kameras tritt, die Wangen gerötet, die Stirn in Falten, den Blick auf seine Notizen geheftet, tut er, was Politikern in solchen Momenten bleibt: Er redet seine Niederlage schön. Ein „großer Erfolg“ sei der Gipfel gewesen, Europa habe eine „Demonstration seiner Souveränität“ abgeliefert. Man habe sich lediglich auf eine „andere Reihenfolge“ geeinigt: Die EU nehme Geld am Kapitalmarkt auf, das dann „besichert durch die russischen Vermögenswerte“ und „über die Vermögenswerte zurückbezahlt“ werde.
Mit dieser Darstellung steht Merz allein. In den offiziellen Gipfelbeschlüssen steht lediglich, die Union behalte sich das Recht vor, die eingefrorenen Vermögenswerte „für die Rückzahlung des Darlehens zu verwenden“ – eine Option, die eines weiteren Beschlusses bedarf. Von einer Besicherung aus russischem Geld keine Spur. Die EU haftet mit ihrem eigenen Haushalt. Die Zinsen zahlt Europa selbst, nicht Russland.
Macron widerspricht Merz’ Darstellung öffentlich. Es gebe für ein Reparationsdarlehen auf Basis russischer Vermögenswerte „keinen ordnungsgemäßen und formalen Zeitplan“. Mit anderen Worten: Der deutsche Plan ist tot, und der französische Präsident will sichergehen, dass das jeder versteht.
Zwei Verlierer kämpfen um Relevanz – auf Kosten Europas
Was diesen Gipfel so entlarvend macht: Beide Protagonisten sind daheim politisch am Ende. Merz erreicht laut einer aktuellen Insa-Umfrage für die Bild am Sonntag nur noch 22 Prozent Zufriedenheit. 66 Prozent der Deutschen sind mit seiner Arbeit unzufrieden. Im Juni 2025, wenige Monate nach seinem Amtsantritt, waren noch 57 Prozent zufrieden. Ein Absturz in Rekordzeit, ein neuer Tiefststand seit Amtsantritt, wie der ARD-Deutschlandtrend bestätigt.
Die CDU/CSU dümpelt in Umfragen bei 24 bis 27 Prozent, rund fünf Punkte unter ihrem Wahlergebnis vom Februar. Die AfD liegt gleichauf oder knapp darüber bei 25 bis 26 Prozent. Die SPD verharrt bei historisch niedrigen 13 bis 14 Prozent. Die Volksparteien befinden sich im freien Fall, während die Ränder erstarken.
Macrons Zahlen sind noch verheerender. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos misst im Dezember 18 Prozent Zustimmung, 77 Prozent der Franzosen lehnen ihn ab. Ifop kommt im November auf 16 Prozent – ein Rekordtief, das niedrigste Ergebnis seiner Amtszeit, eines der schlechtesten Ergebnisse eines französischen Präsidenten in der Nachkriegsgeschichte.
Macrons Partei Renaissance würde bei sofortigen Neuwahlen auf 13 bis 14 Prozent abstürzen, acht bis neun Punkte unter dem letzten Wahlergebnis. Marine Le Pens Rassemblement National liegt bei über 35 Prozent. Fast 60 Prozent der Franzosen befürworten eine Auflösung der Nationalversammlung. Macron hält sich an der Macht durch parlamentarische Taschenspielertricks, nicht durch Rückhalt im Volk.
Zwei Anführer, die ihre Länder nicht mehr hinter sich haben. Zwei Anführer, die Führung simulieren, weil echte Führung Popularität voraussetzen würde, die sie nicht besitzen. Und genau diese beiden sollen den viel beschworenen deutsch-französischen Motor antreiben, um Europa durch die schwerste geopolitische Krise seit dem Kalten Krieg zu steuern.
Für Deutschland ist das Ergebnis des vergangenen EU-Gipfels ein Muster, das sich wiederholt. Gemeinsame EU-Schulden gelten in Berlin jahrelang als Tabu. Die Argumente waren immer dieselben: Haftungsrisiko, Vergemeinschaftung ohne Kontrolle, verfassungsrechtliche Bedenken, ordnungspolitische Tradition. Keine Schuldenunion, heißt es, niemals.
Dann kommt Corona, und Deutschland stimmt dem 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU zu. Ausnahmecharakter, zeitliche Befristung, Krisensituation – so lauteten die Rechtfertigungen. De facto sind es Eurobonds durch die Hintertür. Es soll ein absoluter Einzelfall bleiben, denn die Frage nach der Generationengerechtigkeit stellt sich immer lauter angesichts von Rekordverschuldung bei Rekordsteuereinnahmen.
Jetzt wiederholt sich das Spiel. Die Ukraine-Hilfe wird über EU-Schulden finanziert, besichert aus dem EU-Haushalt. Deutschland hat keine klare rote Linie mehr, die es auch durchhält. Das Ergebnis ist ein Glaubwürdigkeitsverlust, der sich mit jedem Einknicken vertieft.
Die AfD reagiert prompt. Co-Parteichefin Alice Weidel erklärte, „der deutsche Steuerzahler wird wieder die Rechnung bezahlen“. Ob das stimmt, ist juristisch kompliziert. Politisch trifft es jedoch einen Nerv. Merz kommt mit leeren Händen nach Hause. Kein Reparationsdarlehen, keine Nutzung russischer Vermögenswerte, stattdessen genau jene gemeinsamen Schulden, die er verhindern will. Und beim Mercosur-Handelsabkommen, das er bis Jahresende abschließen will, erreicht Meloni mit französischer Rückendeckung einen Aufschub. Zwei Niederlagen in einer Nacht.
Europa simuliert Stärke – Putin wartet ab
Der Gipfel sollte demonstrieren, dass Europa in der Ukraine-Krise handlungsfähig ist; dass der Kontinent seinen Platz am Verhandlungstisch verdient, wenn Donald Trump und Wladimir Putin über die Zukunft der Ukraine entscheiden. Stattdessen liefert Europa den Beweis, dass sein Machtzentrum zerstritten ist.
Die 90 Milliarden Euro für die Ukraine sind beschlossen. Kiew hat Planungssicherheit für zwei Jahre. Das ist die gute Nachricht, zumindest für Selenskyj. Die schlechte: Der Gong hallt nach. Harte Zeiten stehen bevor. Die Unterstützung ist fürs Erste gesichert, doch Europa zeigt, dass es nicht in der Lage ist, geschlossen zu handeln – selbst bei den fundamentalsten Fragen.
Putin kommentiert die Entwicklung auf seiner Jahrespressekonferenz mit der Gelassenheit eines Mannes, der Zeit hat: „Was auch immer sie stehlen und wie auch immer sie es tun, sie werden es eines Tages zurückzahlen müssen.“ Moskau leitet bereits ein Schiedsverfahren gegen Euroclear ein. Der russische Präsident spielt auf Zeit und wartet darauf, dass Europa sich selbst zerlegt.