Die neue Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika markiert einen deutlichen Kurswechsel im transatlantischen Tonfall. Die Europäische Union erscheint darin als politisch erodiert, kulturell entkernt und sicherheitspolitisch abhängig. Migration wird als Risiko benannt, nationale Souveränität als Voraussetzung von Stabilität eingefordert, militärische Abschreckung als überfällig erklärt.

Auffällig ist, wie sehr diese Analyse jenen Thesen ähnelt, die Josef Kraus bereits vor mehr als einem Jahr in seinem Buch „Im Rausch der Dekadenz“ formuliert hat. Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärt der Publizist und ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbands, warum er sich durch das Papier der USA bestätigt sieht und was das für die Zukunft der EU bedeutet.

Herr Kraus, Sie haben in Ihrem Buch „Im Rausch der Dekadenz“ ausführlich analysiert, warum Europa und insbesondere die EU in eine strukturelle Krise geraten sind. Ihr Buch ist vor gut einem Jahr erschienen, jetzt findet man viele Ihrer Diagnosen in der neuen Sicherheitsstrategie der USA wieder, zum Teil fast wörtlich. Wie erklären Sie sich diese bemerkenswerte Übereinstimmung?

Hätte ich das breitbeinige Ego eines Donald Trump, könnte ich jetzt wegen Plagiats gegen die Verfasser der „National Security Strategy“ (NSS) vorgehen und würde mich damit nach US-Maßstäben womöglich zum Multimillionär machen. Ernsthaft: Im NSS-Papier wird die Diagnose „Dekadenz“ (engl. „decaye“) tatsächlich ausgeführt. Aus meiner Sicht steht gerade die EU dafür. Zumal sie etwas anderes ist als „Europa“. Denn eigentlich hat die EU als dysfunktionaler, totalitaristisch anmutender Big-Brother-, pardon: Big-Sister-Monsterapparat mit europäischer, westlicher Leitkultur wenig zu tun.

Wieso hat die EU diese Entwicklung nicht vorhergesehen?

Vorhergesehen? Die EU – namentlich die EU-Kommission mit einer zweimal ohne Wahl durch das Volk installierten Präsidentin und CDU-Frau Ursula von der Leyen – fördert diese Entwicklung. Das hat nichts mit „Europa“ als über Jahrhunderte gewachsenem Werte-, Kultur- und Bildungskosmos zu tun. Die überwältigende Mehrheit der rund 447 Millionen Bürger in den 27 EU-Mitgliedsländern fühlt sich als Europäer, nicht als EU-Bürger. Ich selbst spreche übrigens nie von Europawahl oder Europaparlament, sondern von EU-Wahl und EU-Parlament.

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Zur Person

Josef Kraus ist Publizist, Bildungsexperte und ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (1987–2017). Er studierte Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie. 

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt „Im Rausch der Dekadenz“, erschienen 2024, in dem er den politischen, kulturellen und demografischen Zustand Europas analysiert und die Sicherheitsstrategie der USA ohne es zu wissen voraussagt.

Trump und Vance sprechen von der EU als einem System, das „erodierende Legitimität“ aufweise und „kulturell entkernt“ sei. Sie finden in Ihrem Buch ähnliche Worte.

Die EU ist kein Staat, auch kein Bundesstaat, sondern nur ein Staatenbund. Da kann sich eine Kommissionspräsidentin noch so royal aufführen, da kann die EU noch so viele Billionen verschlingen und verteilen. Da kann sie noch so viele Regeln bis hin zur Disziplinierung der Meinungsfreiheit – siehe den Digital Service Act (DAS) – an sich reißen. Im Übrigen: Wo haben wir in der EU Gewaltenteilung? Hier gehen Legislative und Exekutive ineinander über.

Kein Geringerer als der damalige Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), hat die Legitimität der EU – in wohl ungewollter Ehrlichkeit – auf den Punkt gebracht: „Wäre die EU ein Staat und würde sie einen Antrag zum Beitritt zur EU stellen, so würde dieser wegen sichtlicher demokratischer Defizite abgelehnt.“ So Schulz am 1. Juli 2013 im Tagesgespräch „Phoenix vor Ort“.

Sehen Sie die Europäische Union nicht als Zukunftsprojekt? Gibt es in Ihren Augen noch eine Reformoption für die EU?

Die EU hypertrophiert. Das verkürzt ihre Lebenserwartung wie bei einem mit Anabolika gemästeten Bodybuilder. Mit anderen Worten: Die EU muss abspecken. Wir brauchen keine EU-Monsterbehörde mit teuren 60.000 Beamten, die sich Tag für Tag ausdenken, was man noch alles regeln könnte: für den Green Deal, bei Lieferketten, bei der Vereinheitlichung von Traktorensitzen, Gurkenkrümmungen, Düngeverordnungen … Das kommt mir vor wie die vielköpfige Hydra mit der giftigen Galle im Leib – das Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, dem ständig neue Köpfe nachwuchsen, ehe Herkules es tötete. Dieses Bild will ich aber nicht vertiefen.

Josef Kraus

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Die Amerikaner kritisieren, dass Europa seine politische Souveränität „an nicht legitimierte Verwaltungsapparate“ abgegeben habe. Sind die Vereinigten Staaten von Amerika damit paradoxerweise heute ein stärkerer Verteidiger europäischer Nationalstaatlichkeit als die EU selbst?

Eindeutig, ja! Man schätzt, dass 80 Prozent der national geltenden Gesetze aus Brüssel stammen. Die nationalen Parlamente wurden damit zu Schwatzbuden und Abnickklubs degradiert.

Wie erklären Sie sich, dass die Europäische Union diese strukturellen Defizite kaum thematisiert, geschweige denn behebt?

Die EU wird doch nicht auf Machtfülle verzichten. Das gerne bemühte Subsidiaritätsprinzip ist nur Sonntagsgerede. Allerdings ist es für die Politik in den Mitgliedsländern praktisch, aber auch verlogen, die Eigenverantwortung an der Brüsseler Garderobe abzugeben und zugleich die Hand aufzuhalten. Jetzt freilich pochen die Altparteien auf Eigenverantwortung, wenn sich die USA einmischen. Wenn Kanzler Merz vollmundig sagt, unsere Belange regeln wir selbst, dann ist das hohles Gerede. Zumal nicht einmal die Selbsterkenntnis da ist, die den ersten Schritt zur Besserung darstellen könnte.

Man hat nicht einmal Warnungen aus dem eigenen Land wahrhaben wollen. Merkel etwa hat Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2010 als nicht hilfreich abgetan, und die SPD hat Sarrazin aus der Partei ausgeschlossen. Nun schreibt die US-Regierung etwas auf, was längst als Selbsterkenntnis notwendig gewesen wäre. Dieser Alarmruf war nötig. Vergessen wir obendrein nicht: Die drei Seiten des NSS-Papiers zu Europa sind überschrieben mit: Promoting European Greatness. Warum also nicht mal statt MAGA MEGA: Make Europe Great Again!

Sie schreiben: „Die politische Linke hat sich mit dem schwärmerischen Globalismus verbündet.“ Trump und Vance argumentieren sehr ähnlich: Sie sprechen von „civilizational decline“ und machen eine globalistische Ideologie dafür verantwortlich. Warum ist die EU aus Ihrer Sicht besonders anfällig für universalistische und postnationale Ideen?

Dahinter steckt die ewig morgige linke Nationalallergie samt ihrem sozialistischen Internationalismus. Gepaart mit einem eitlen Selbsthass der Europäer, wie ihn französische Intellektuelle wie Pascal Bruckner 2008 und Michael Onfray 2017 sezieren. Und wie ihn der spätere Papst Benedikt XVI. im Jahr 2000 als „Selbsthass des Abendlandes“ charakterisierte. Interessant ist ja, dass sich in Sachen Globalismus die Linke und der Kapitalismus die Hände reichen.

Nota bene: Trump und Vance sollten mit einem Schuss Selbstkritik einräumen, dass diese Denke ihre Ursprünge in US-Eliteuniversitäten sowie in Medien wie der New York Times hat und Trump in seiner ersten Amtszeit von 2017 bis 2021 hier nichts Korrigierendes zustande brachte. Stichworte: Cancel Culture, Black Lives Matter, Stop White Supremacy! Stop Toxic Masculinity! Critical Whiteness Studies, Postcolonial Studies … All das ist über den großen Teich nach Europa herübergeschwappt. Hier von den Linken trotz ihres sattsam gepflegten Antiamerikanismus begierig aufgegriffen oder gar getoppt. Übrigens könnte man das aktuelle US-Strategiepapier auch als Retourkutsche auf diesen Antiamerikanismus, ja boshaft gar als Reeducation 2.0 interpretieren.

Ist dieser Universalismus das Kernproblem der EU oder nur ein Symptom tiefgreifender und allumfassender Strukturprobleme?

Das Problem ist der Omnipotenzwahn der EU. Jetzt etwa mit dem Versuch, aus der EU heraus Parallelstrukturen zur Nato zu schaffen. Wo doch sechs europäische Nato-Mitglieder (etwa Großbritannien, Türkei, Norwegen) nicht Mitglied der EU und vier EU-Mitglieder (Österreich, Irland, Malta, Zypern) nicht Mitglieder der Nato sind.

Sie plädieren für eine „drastische Beschränkung der Migration“, da die „Kapazitäten des Westens und Deutschlands erschöpft“ sind. In der Sicherheitsstrategie der USA wird Migration ausdrücklich als Sicherheitsbedrohung und zivilisatorisches Risiko bewertet. Fast wortgleich zu Ihren Formulierungen. Warum ist die EU in dieser Frage offenbar blind?

Weil arrivierte EU-Politiker nichts mehr fürchten als den Vorwurf des Faschismus, des Rassismus. Weil diese Leute nicht sehen wollen, dass der Islam nicht vereinbar mit europäischen Werten ist. Und weil sich diese Führungsfiguren verhalten wie Biedermann in Max Frischs Einakter „Biedermann und die Brandstifter“ von 1958. Darin nisten sich bei Biedermann der Ringer Schmitz und der Kellner Eisenring im Dachboden ein. Biedermann will die Gefahr der Brandstiftung selbst dann nicht wahrhaben, als Schmitz und Eisenring Benzinfässer und Zündschnüre in den Speicher schleppen. Biedermann will es nicht wahrhaben: „Freundlich empfängt er’s, / Wehrlos, ach, müde der Angst, / Hoffend das Beste … / Bis es zu spät ist.“

Schließen Sie sich der amerikanischen Diagnose an, dass Europa an „cultural suicide“ leidet?

Ja, denn Selbsthass, psychologisch: Autoaggression, ist die Vorstufe suizidaler Entwicklungen. Das hatten beziehungsweise haben wir eigentlich ab den 1960er-Jahren auch in den USA. Motto: „Hey hey, ho ho, Western culture’s got to go!“

Sie schreiben: „Die EU-Regelungswut greift in den Alltag der Menschen ein, vom Bananenmaß bis zur Glühbirne.“ Donald Trump beschreibt genau diese Regulierungswut als strukturelle Blockade europäischer Innovationskraft. Warum hat sich das europäische Selbstverständnis von Freiheit zu Regelung verschoben, oder war das im Kern schon immer so?

Nein, das war nicht immer so. Weil es früher keinen EU-Koloss gab. Früher gab es einen fruchtbringenden kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Wettbewerb der europäischen Nationen untereinander. Die ganze Welt wurde davon bereichert.

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Sie sind der Meinung, die EU sei identitätsschwach und habe sich von der Idee eines „Europas der Nationen“ entfernt. Glauben Sie, dass die EU langfristig überleben wird – oder muss die EU womöglich untergehen, damit Europa als Kultur- und Wertegemeinschaft wieder handlungsfähig wird?

Die EU ist identitätsschwach, weil sie kulturell gesichts- und geschichtslos ist. Leider wurde nichts aus einem „Europa der Vaterländer“ (Charles de Gaulle 1959). Geblieben sind allein ökonomische, teilweise militärstrategische Interessen. Auf der Strecke bleibt die europäische Idee, wie sie Ortega y Gasset 1929 charakterisierte: „In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen …; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“ Ein Jahr später schrieb Ortega y Gasset zudem: „Der Führung in der Gesellschaft hat sich ein Menschentypus bemächtigt, den die Prinzipien der Kultur kaltlassen.“ Wie wahr, heute wieder.

Die neue Strate­gie der USA fordert Europa auf, seine Grenzen zu schützen, Migration zu begrenzen, die nationale Identität zu stärken, den Sicherheitsbeitrag signifikant zu erhöhen. All das klingt nach Ihren eigenen Forderungen. Was denken Sie: Wird sich die Europäische Union den Forderungen anpassen?

Der Schutz der Grenzen steht an erster Stelle. Dazu gehören konsequente Asyl- und Freizügigkeitsregeln. Es gibt kein Recht auf totale globale Freizügigkeit. Jeder Staat hat das Recht – und die Pflicht –, sein Hoheitsgebiet zu schützen. Die Forderung der USA, übrigens schon seit Barack Obama, die europäischen Nato-Mitglieder müssten erheblich mehr Geld für Verteidigung ausgeben, ist berechtigt. Stattdessen haben gerade die Deutschen, zumal in 16 Merkel-Jahren, die Bundeswehr entkernt.

Nach wie vor sind wir trotz dreistelliger Milliarden-Sonderschulen von einer halbwegs vollen Verteidigungs- und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr mindestens fünf Jahre entfernt. Mangelnde Verteidigungsfähigkeit hat übrigens in der Dekadenz-Geschichte – neben einer Armut an Kindern und einem sorglosen Luxusleben – immer eine große Rolle beim Niedergang von Staaten und Kulturen gespielt.

Ist dies das Ende der „alten westlichen Ordnung“ oder der Anfang einer neuen?

Die Welt ist im Umbruch. Wie sie es immer war. Ein halbes Jahrtausend hat Europa die Welt geprägt. Das dürfte vorbei sein. Seine innereuropäischen Bürgerkriege 1914/1918 und 1939/1945, die zu Weltkriegen ausarteten, haben Europa nachhaltig geschwächt: kulturell, politisch und demografisch. Eine neue Ordnung zeichnet sich ab. Allerdings keine Ordnung, wie sie Francis Fukuyama 1989/1990 mit einem weltweiten Sieg des Liberalismus imaginierte.

Die europäischen Staaten haben darauf keine Antwort gefunden. Die USA sind dabei, eine Antwort zu finden. Vor allem China fordert den Westen heraus: ökonomisch, technologisch und politisch. Und Afrika steht quasi vor der Tür. Derzeit mit einer Bevölkerung von 1,5 Milliarden Menschen, bald – 2050 – mit zweieinhalb Milliarden. Das ist dann das Vierfache von dem, was die EU-Länder und die USA zusammen an Menschen haben. Der Westen hat hier nur eine Chance, wenn er sich seines Eigenen besinnt und sich bei aller reflektierten Offenheit kulturell und intellektuell als eine Festung versteht.

Sie schreiben mehrfach, Deutschland sei demografisch und politisch Ermüdungserscheinungen ausgesetzt. Ist Deutschland das Land, das die EU am stärksten destabilisiert?

Ja, im Positiven wie im Negativen. Wenn der deutsche Industrie- und Wirtschaftsmotor stottert, und das tut er nicht zuletzt wegen einer eigenwilligen Energiepolitik ohne Kernkraftwerke, hat das Auswirkungen auf die EU. Auch, was die Zahlungsfähigkeit des größten EU-Beitragszahlers, nämlich Deutschlands, betrifft. Wenn Deutschland die ungeregelte Zuwanderung nicht in den Griff bekommt, tut das ein Übriges. Mit entscheidend ist, wie es in Frankreich nach Macron im Frühjahr 2027 weitergeht.

Maßgeblich dort und in Deutschland wird sein, wie stark sogenannte rechte Kräfte sein werden, ob man sie einbinden kann oder ob sie nicht zuletzt wegen errichteter sogenannter Brandmauern noch stärker werden. Amerika hat jedenfalls wahrgenommen, welche Folgen Merkels Grenzöffnung von 2015 hatte. Zudem nimmt man in den USA und in EU-Mitgliedsländern wahr, dass es mit Ursula von der Leyen eine Deutsche ist, die die Brüsseler Hydra – manche nennen sie eine EUdSSR – wie eine Zarin führt und sich jeder Transparenz verweigert. Das stabilisiert die EU nicht gerade.

Sie haben die Haltung der Amerikaner zu Europa vorhergesagt. Was sagen Sie jetzt für Europa voraus: Wie wird die EU auf die Strategie reagieren, und wo steht Deutschland am Ende von Trumps zweiter Amtszeit 2029?

„Europa“ beziehungsweise die EU würde gut dran tun, die Spaltung zwischen „woke-bürgerlich“ und „populistisch“ zu überwinden. Sonst wird die EU zu einem Trümmerhaufen, wie es Deutschland im 19. Jahrhundert mit circa 300 Territorien und später im Deutschen Bund mit 39 Mitgliedstaaten war. So nämlich verschwindet Europa aus der Geschichte. Derzeit sind allerdings keinerlei Ansätze zu erkennen, wie man die drohende Spaltung des Westens – und Deutschlands – überwindet und zugleich Europa auf Augenhöhe mit den USA bringt. Die Uhr jedenfalls tickt.