Die EU hat sich doch nicht entschieden, das russische Nationalbankvermögen in Belgien zu konfiszieren. Aber das Problem kann jederzeit wieder auftauchen: wenn die Ukraine mehr Geld braucht, wenn die zwei Jahre, während deren sie durch Kredite finanziert wird, abgelaufen sind oder wenn jemand auf die Idee kommt, auch andere staatliche russische Besitztümer zu beschlagnahmen.
Für die wäre das ein Akt historischer Gerechtigkeit: Russland soll für das zahlen, was es in der Ukraine angerichtet hat. Damit würde zum ersten Mal ein Krieg führendes Land noch vor Beendigung der Kämpfe Reparationen zahlen – und das noch dazu an die unterlegene Seite. Bisher wurden Reparationen in der Regel vom Unterlegenen an den Sieger bezahlt.
Vermögen wird eingefroren: Welcher Logik folgt der Markt?
Für andere wäre das das Überschreiten einer roten Linie: Staaten konfiszieren willkürlich das Vermögen anderer Staaten, obwohl diese doch die sogenannte Staatenimmunität genießen. Sie sehen darin einen gravierenden Verstoß gegen das Völkerrecht, fürchten eine russische Retourkutsche und unvorhersehbare juristische Fallstricke und Unwägbarkeiten. Was, wenn Russland dagegen klagt und Recht bekommt? Das tut Russland bereits. Die russische Nationalbank hat bereits gegen Euroclear – die belgische Firma, die ihr Vermögen verwaltet und eingefroren hat – in Moskau geklagt.
Bei dem Streit geht es aber noch um mehr. Erstens geht es darum, ob eine Beschlagnahmung der russischen „Assets“ dem Euro und der Eurozone schaden würde, weil dann plötzlich ganz viele Investoren ihr Geld aus der Eurozone abziehen würden, weil sie Angst hätten, ebenfalls enteignet zu werden. Zweitens geht es darum, ob die EU nicht stattdessen einfach gemeinsame Schulden aufnehmen und damit der Ukraine unter die Arme greifen sollte.
Beide Seiten haben in dieser Hinsicht gute Argumente. Aus der Sicht der Märkte macht es wenig Unterschied, zwischen Einfrieren und Konfiszierung zu unterscheiden: Der Eigentümer kann so oder so nicht darüber verfügen. Die russischen „Assets“ sind aber schon seit Jahren eingefroren, ohne dass das der Eurozone als Investitionsstandort oder dem Kurs des Euro messbar geschadet hätte. Das hat inzwischen auch eine der führenden Ratingagenturen bestätigt: Weder Belgiens Rating noch das von Euroclear würde leiden, sollte die EU die „Assets“ zur Finanzierung der Ukraine verwenden, so Fitch. Letzten Mittwoch äußerte sich die Agentur dann plötzlich skeptischer. Man brauche mehr Klarheit über die Details der geplanten Operation. Dem Außenwert des Euro hat die Debatte bisher nicht geschadet – er stieg in den letzten Wochen stetig gegenüber dem Dollar und dem Yen und sank in den letzten Tagen nur leicht gegenüber dem Schweizer Franken.
Wesentlich komplizierter ist die Frage, ob die EU und Belgien so etwas – völkerrechtlich betrachtet – überhaupt tun dürfen und was ihnen droht, wenn sie es nicht dürfen und es trotzdem tun. Die Antwort ist paradox. Das Völkerrecht gebietet und verbietet so etwas gleichzeitig, und es schützt die EU vor russischen Repressalien, was sich Russland sogar selbst zuzuschreiben hat. Und das ist bei weitem nicht das einzige Paradox in dieser Sache.
Wiedergutmachung ist angesagt
Grundsätzlich lässt das Völkerrecht Besatzungen zu, wenn sie human ablaufen, der Besatzer dabei nicht gegen die Rechte der Besetzten verstößt und die Besatzung nur vorübergehend ist. Annexionen dagegen sind grundsätzlich verboten und, was im Kontext der derzeitigen Waffenstillstandsverhandlungen sehr wichtig ist: Annexionen anzuerkennen ist auch verboten. Dagegen hat Russland schon mehrfach verstoßen, genauso wie gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907, die Genfer Konventionen und die Europäische Menschenrechtskonvention. Artikel 3 der Landkriegsordnung verlangt schlicht, der Besatzer müsse Kompensation bezahlen, wenn er gegen die Rechte der Besetzten verstößt. Auf den gleichen Artikel stützt übrigens Polen seine Reparationsforderungen gegen Deutschland. Das Problem dabei: Weder bestimmt der Artikel, wie und in welcher Höhe ein Ausgleich bezahlt werden muss, noch gibt es irgendein Gericht auf dieser Welt, das dafür zuständig wäre, solche Modalitäten festzulegen.
Manche Juristen stützen sich zusätzlich auch auf die Konvention über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen, die von der Uno-Generalversammlung verabschiedet wurde. Sie verlangt von einem Staat, der gegen Völkerrecht verstoßen und einem anderen geschadet hat, Reparationen und Schadensausgleich und erlaubt anderen Staaten, „Gegenmaßnahmen“ gegen den Aggressor-Staat anzuwenden. Das Problem: Diese dürfen nicht unumkehrbar sein, was im konkreten Fall des russischen Staatsvermögens heißt, man darf es einfrieren, aber nicht konfiszieren. Aber die Konvention ist noch gar nicht in Kraft getreten. Teilweise (in Bezug auf Reparationen) enthält sie zwar bindendes Völkergewohnheitsrecht, aber nicht in Bezug auf die erlaubten Gegenmaßnahmen für Völkerrechtsverstöße.

Die Euroclear-Zentrale in BrüsselJonathan Raa/imago
Geht man also davon aus, dass Russland – wie jeder Staat – Staatenimmunität genießt, dann sind sowohl das Einfrieren als auch das Konfiszieren der russischen „Assets“ völkerrechtswidrig, denn beides entzieht sie der Verfügungsgewalt Russlands. Nach dem Einfrieren ist Russland zwar noch der Eigentümer, aber nicht mehr der Besitzer, nach einer Enteignung ist es keines von beiden mehr.
Wie Russland sich selbst die Hände band
Das Paradoxe der derzeitigen Situation besteht aber darin, dass Russland gegen die Konfiszierung seines Auslandsvermögens (soweit dieses nicht zusätzlich diplomatischen Schutz genießt) juristisch gar nicht erfolgreich vorgehen kann. Nehmen wir die Klage, die die russische Nationalbank in Moskau gegen Euroclear angestrengt hat. Das Gericht wird Euroclear natürlich verurteilen. Aber es gibt keine Möglichkeit, diese Klage in der EU durchzusetzen. Keine Bank wird Euroclear-Vermögen einfrieren, kein Gerichtsvollzieher wird losziehen, um den Zwangstitel einer Moskauer Bank in Brüssel zuzustellen. Dazu müsste das Moskauer Urteil von einem belgischen Gericht übernommen werden. Ein belgischer Richter muss die Zwangsvollstreckung in Brüssel anweisen. Die kann Euroclear dann anfechten. Der Ausgang ist klar: Die Durchsetzung des Moskauer Urteils ist in Belgien unzulässig, weil sie gegen die belgische „öffentliche Ordnung“ („ordre public“) verstößt und es in Russland keine unabhängige Justiz gibt, wodurch nicht sichergestellt ist, dass das Urteil nicht durch staatliche Willkür zustande gekommen ist.
Erster Ausweg für die russische Nationalbank: Sie kann direkt vor einem belgischen Gericht klagen. Dann allerdings muss der Richter belgisches Recht anwenden – und nach belgischem Recht ist die Konfiszierung legal, weil ihr ein EU-Rechtsakt zugrunde liegt. Also muss die russische Nationalbank entweder die EU oder den Staat Belgien verklagen. Vor einem russischen Gericht geht das aber nicht, denn dort genießen ausländische Staaten Staatenimmunität. Die kann Russland aufheben, aber das bringt ihm auch kein Urteil, das in Belgien oder der EU durchgesetzt werden kann. Staatenimmunität ist unter anderem der Grund, warum namibische Organisationen immer wieder daran gescheitert sind, die Bundesrepublik auf Reparationen zu verklagen. Das Auswärtige Amt nahm die Klage nicht einmal entgegen. Als die Namibier in New York klagten, berief sich Deutschland auch dort auf die Staatenimmunität – und bekam Recht. Einziger Ausweg: eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Und jetzt wird es richtig lustig – aber nicht für Russland.
Russland klagt in Den Haag – oder lieber doch nicht?
Der IGH ist kein normales Gericht. Klagen können dort nur Staaten gegen andere Staaten erheben (was den Namibiern, die von ihrer Regierung nicht unterstützt wurden, den Gang nach Den Haag versperrte), aber auch nur unter bestimmten Bedingungen. Nämlich erstens, wenn sich das aus einem bestimmten Vertrag, den Kläger und Beklagter miteinander abgeschlossen haben, so ergibt. Zweitens, wenn ein Staat in einer gesonderten Erklärung seine grundsätzliche Bereitschaft erklärt, Klagen zu akzeptieren. Dabei gilt das Gegenseitigkeitsprinzip: Belgien nimmt Klagen von Russland entgegen, wenn Russland auch Klagen anderer Staaten von vorneherein akzeptiert. Tut es aber nicht, weshalb es gegen Belgien nicht klagen kann, es sei denn, Belgien akzeptiert eine solche Klage einmalig und explizit. Tut es das nicht, weist der IGH die russische Klage wegen Unzuständigkeit ab.
Russland kann nicht einmal mehr vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gegen Belgien klagen. Dort sind zwar Klagen von Staaten gegen andere Staaten auch möglich, aber nur wegen Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Russland müsste dort argumentieren, dass es durch die Konfiszierung seiner Vermögenswerte diskriminiert wird. Es kann sich nicht einmal auf den Eigentumsschutz des Ersten EMRK-Zusatzprotokolls berufen, denn das hat Russland nie ratifiziert. Eine Klage in Straßburg wäre aber noch aus einem anderen Grund ein Schuss in den Ofen. Der Gerichtshof könnte dann die dort gegen Russland anhängigen Klagen mit der russischen Klage gegen Belgien zusammenlegen, womit Russland eine Verhandlung provoziert hätte, in der es nicht mehr nur um seine Nationalbank, sondern vor allem um die millionenfache Vertreibung von Ukrainern, um Menschenrechtsverstöße gegen russische Bürger, die ethnische Säuberung der Krim und der annektierten Gebiete und zahlreiche andere Menschenrechtsverstöße geht. Um genau das zu verhindern, hat Russland schon im März 2022 seinen Austritt aus dem Europarat angekündigt und wurde einen Tag später ausgeschlossen. Nur Mitglieder können gegen andere Mitglieder klagen.

Belgiens Premier Bart De Wever während des EU-GipfelsPeng Ziyang/imago
Kurz gesagt: Die russischen „Assets“ zu beschlagnahmen verstößt gegen das Prinzip der Staatenimmunität, aber die schützt diejenigen, die dagegen verstoßen, auch gleichzeitig vor russischen Klagen. Und es war Russlands eigene Politik, die nun verhindert, dass Russland dagegen in Den Haag oder Straßburg klagen kann.
Hände weg von meiner Investition
Manchmal taucht in der Diskussion auch der Hinweis auf bilaterale Investitionsschutzabkommen auf, die angeblich das russische Staatsvermögen im Ausland schützen und aufgrund derer Russland bei Konfiszierung (aber auch nach dem schieren Einfrieren) sogenannte Schiedsgerichte anrufen kann. Das belgisch-sowjetische Investitionsschutzabkommen stammt noch von 1989 und sieht ein mehrstufiges Verfahren vor, an dessen Ende Russland entweder die Vermittlung der schwedischen Handelskammer oder eine Uno-Kommission anrufen kann, die dann aufgrund belgischen und internationalen Rechts ein „endgültiges und verbindliches Urteil“ spricht, das dann aber wiederum (wie ein Urteil eines Moskauer Gerichts) wieder nach belgischem Recht umgesetzt werden muss.
Spätestens dann trifft es, falls es für Belgien ungünstig ausgeht, auf die Mauer der „öffentlichen Ordnung“, gegen die es verstößt. Der Begriff ist ein juristischer Schild, mit dem Staaten ihre Souveränität schützen. Gerichte stützen sich immer dann darauf, wenn die Auswirkungen eines ausländischen Rechtsakts – auch wenn der selbst rechtskonform ist und korrekt angewendet wurde – so gravierend wären, dass sie das hiesige Gerechtigkeitsempfinden stören oder die „öffentliche Ordnung“ erschüttern könnten. Damit es so weit gar nicht kommt, schlägt die Europäische Kommission noch zusätzlich vor, alle bilateralen Investitionsschutzabkommen mit Russland zu kündigen und sich gegen russische Gerichtsurteile mit dem „Ordre public“-Einwand zu wehren. Das schießt etwas über das Ziel hinaus, denn solche Kündigungen werden in den meisten Fällen erst nach einem Jahr wirksam. Aber auch ohne sie können sich EU-Staaten ganz gut gegen Arbitrage-Urteile russischer Gerichte wehren. Fast alle Länder der Welt, darunter die EU-Mitgliedsstaaten und selbst Russland, haben inzwischen die New Yorker Konvention über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche ratifiziert. Die soll die gegenseitige Anerkennung und Durchsetzung solcher Schiedssprüche erleichtern, enthält aber in ihrem Artikel V ausdrücklich den Vorbehalt des „ordre public“.
Diese Investitionsschutzabkommen sind inzwischen sinnlos geworden: Sie schützen zwar noch bis zu einem gewissen Grad Oligarchen-Besitz in der EU, aber von russischen Gerichten werden sie kalt lächelnd ignoriert. Und die EU-Kommission und eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen in der EU halten die Art und Weise, wie sie angewendet werden, für nicht EU-rechtskonform. Ihr Sinn bestand ja eigentlich darin, Investitionen in beiden Ländern vor Enteignung zu schützen und Mechanismen einzurichten, mit denen Streitigkeiten vorgerichtlich geklärt werden können. Das ist aber seit 2020 hinfällig. Damals nahm Russland mit dem Artikel 248 eine Art Sanktionsbrechstange in sein Handelsgesetzbuch auf. Er verbietet es Betrieben, sich an ausländischen Vermittlungsprozeduren zu beteiligen, und zwingt sie, vor russische Gerichte zu ziehen. Geht beispielsweise ein deutsch-russisches Joint Venture vor ein Schiedsgericht in der EU, kann es in Moskau in Höhe der strittigen Summe abgestraft werden. Internationale Vermittlung ist damit für in Russland ansässige Investoren unmöglich geworden; sie müssen sich der ausschließlichen russischen Arbitrage-Gerichtsbarkeit unterwerfen – egal, was das jeweilige Investitionsschutzabkommen verlangt. Die EU-Kommission hat deshalb die Mitgliedsstaaten schon in ihrem 15. Sanktionspaket aufgefordert, solche Abkommen zu kündigen.
Wegen der westlichen Sanktionen und des öffentlichen Drucks auf westliche Firmen sind Auslandsinvestitionen in Russland seit Februar 2022 drastisch zurückgegangen, um sage und schreibe 262 Milliarden Euro – also mehr, als dem Wert der „Assets“ der russischen Nationalbank in Belgien entspricht. Das ist auch die Antwort auf die Furcht vor russischen Vergeltungsmaßnahmen: Russland wird keine EU-Investitionen einfrieren oder konfiszieren, wenn sein Nationalbankvermögen in Belgien beschlagnahmt wird. Der Grund ist simpel: Es hat sie schon konfisziert. Seit Dezember 2022 müssen Investoren, die Russland verlassen wollen, ihr Vermögen mit einem 50-prozentigen Abschlag verkaufen und zusätzlich eine 15-Prozent-Steuer entrichten.