Ein großer roter Stern leuchtet draußen am Stuttgarter Kinder- und Jugendhospiz. Drinnen stehen Wichtel und kleine Tannenbäume auf den Fensterbänken. Das ganze Haus ist weihnachtlich geschmückt. Im Speisesaal brennen Kerzen. Hier feiern sie an Heiligabend gemeinsam: die erkrankten Gäste, ihre Geschwister und Eltern, die Mitarbeitenden.
Um kurz vor 16 Uhr wird die Sozialpädagogin Anne Bartels mit ihrer Kollegin an diesem Nachmittag die gespendeten Geschenke aus dem Zimmer im oberen Stock holen und im Saal unter den Weihnachtsbaum legen, sie mit einer Decke bedecken, bevor alle zusammenkommen. Die 61-jährige Hospiz-Mitarbeiterin freut sich schon seit Tagen auf die Feierlichkeiten. Sie ist Weihnachten zwar auch sehr gerne zu Hause bei der Familie, aber sie hat eben auch sehr gerne an Heiligabend Dienst. Weihnachten im Kinderhospiz sei „sehr schön“. Sie bildeten eine große Gemeinschaft, niemand müsse sich erklären. „Da gehe ich oft beseelt nach Hause.“
Besuch des Festgottesdienstes wäre zu trubelig für viele erkrankte Kinder
Anne Bartels hat alles zusammen, was sie für die Weihnachtsgeschichte braucht, die sie beim Beisammensein mit den Familien an diesem 24. Dezember anhand von Bildertafeln erzählt – und mithilfe von viel Material: Nägel und Holz, Stroh und Sand, eine Babypuppe. Die Geschichte soll ein Erlebnis sein – für die gesunden Kinder wie für ihre erkrankten Geschwister, für die ein Besuch beim trubeligen Festgottesdienst in der Kirche meist gar nicht möglich wäre.
„Wir versuchen, mit allen Sinnen zu spielen“, erklärt Anne Bartels. Sie hat sogar an eine Wärmflasche gedacht, um den Sand zu erwärmen. Als wäre es echter Wüstensand, in den die Kinder ihre Finger tauchen können. Die Kinder sollen die Geschichte miterleben, auch wenn sie diese wegen ihrer Beeinträchtigung nicht begreifen können.
Anne Bartels probt die Weihnachtsgeschichte. Foto: Viola Volland
Bis zu acht Familien können zeitgleich im Stuttgarter Kinderhospiz sein und hier Kraft schöpfen. Über Weihnachten sind sechs Gäste mit ihren Angehörigen da, darunter auch eine junge Frau, die keinen Pflegedienst für die Feiertage gefunden hat, und ein Kind mit seiner alleinerziehenden Mutter. Manche sind erst kurz vorher angereist, andere haben sich schon länger eingelebt. In den Vortagen haben Geschwisterkinder Plätzchen gebacken und waren auf dem Weihnachtsmarkt.
„An Weihnachten ist immer eine ganz besondere Atmosphäre“, sagt auch Michaela Müller, die Leiterin des stationären Kinderhospizes. Sie rechnet in diesem Jahr nicht mit einem Abschied wie 2018, als ein Kind an Heiligabend verstarb. Für manche Familien sei es aber vielleicht das letzte gemeinsame Weihnachtsfest. Die Kinder, die ins Hospiz kommen, haben eine lebenszeitverkürzende Erkrankung oder Behinderung. Und doch, betont sie, sei die Stimmung nicht schwer, nicht gedrückt, sondern „sehr fröhlich“.
So hat es auch Judith Schächterle empfunden. Die 50-jährige Alleinerziehende fühlt sich an Weihnachten mit ihren beiden Kindern geborgen im Hospiz, das für sie seit Jahren eine besondere Zuflucht ist. Sie kommt unterm Jahr zur Entlastung in die Einrichtung und wenn möglich jedes zweite Weihnachten. Es ist der einzige Ort, an dem sie zur Ruhe kommen, ausschlafen und Luft holen kann. Andere würden in den Urlaub fahren, sie fährt aus Tübingen ins Hospiz.
Gendefekt führt zu schweren epileptischen Anfällen
Judith Schächterles Sohn Kiron wurde vor zwölf Jahren mit einem sehr seltenen Gendefekt geboren, den man KCNT1-Mutation nennt. Die Mutation führt zu schweren epileptischen Anfällen, die vor allem nachts auftreten. In den anstrengendsten Zeiten hatte er 80 bis 100 Anfälle pro Tag. Seine Mutter erhielt damals kaum Unterstützung, musste die Nächte selbst abdecken. Nach langem Kampf und größter Erschöpfung ist heute zum Glück in der Regel immer ein Nachtdienst bei ihr zu Hause, und auch die Anfälle sind seltener geworden.
Kiron hat einen sehr niedrigen Muskeltonus und kann deshalb seinen Körper nicht halten, wodurch seine Wirbelsäule immer stärker verkrümmt. Er kann entsprechend auch nicht zum Löffel greifen und ihn zum Mund führen. Er ist ein ruhiger Junge, der nicht spricht und nicht weint. Judith Schächterle nennt ihn ihren „kleinen Buddha.“ Aber er zeigt, wenn er etwas nicht mag. Spürt er die Zahnbürste im Mund, wirft er den Kopf hin und her. Wenn er sich sonst stärker bewegt, hat er meistens einen Anfall.
Video ist ein Schatz für alle, die ihn lieben
Judith Schächterle zeigt ein rührendes Video, auf dem ihr Sohn in ihrem Arm liegt und lautiert. Wie ein Vögelchen macht er den Mund auf und zu, stößt mehrfach den Laut „An“ aus – bis man ihn ganz deutlich „An-ja“ sagen hört. Ein besonderer Moment. Eine seiner Pflegerinnen heißt Anja. Nicht, dass er es bewusst gesagt haben kann, aber das ist nicht wichtig. Das Video ist ein Schatz für alle, die ihn kennen und lieben.
Die Mutter weiß nicht, ob ihr Sohn eine Vorstellung davon hat, wer sie selbst eigentlich ist. Aber Stimmungen könne er wahrnehmen. Und er spürt den Unterschied, ob seine Hände in Sand oder Wasser tauchen, das Element, das er besonders mag.
Auch für Kinder wie Kiron macht sich Anne Bartels solch eine große Mühe. Der Junge war 2024 das letzte Mal über Weihnachten mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Vater, der getrennt von der Familie lebt, im Kinderhospiz. Auch da wurde die Weihnachtsgeschichte aufgeführt. Judith Schächterle schwärmt davon, wie „wahnsinnig liebevoll“ alles im Hospiz an den Festtagen gestaltet sei. Es sei erleichternd, selbst „nichts damit zu tun“ zu haben. Sich einfach zurücklehnen zu können. Nicht einmal an Geschenke denken zu müssen, wo sie sonst immer an so vieles denken muss. „Ich habe pflegefrei und kann die Zeit ganz anders genießen“, sagt sie.
Mayara liebt es, den Baum zu schmücken. Foto: Hospiz Stuttgart
Auch ihre Tochter Mayara ist dann immer gut beschäftigt. Die Sechsjährige liebt es, gemeinsam mit den anderen Geschwisterkindern den Weihnachtsbaum zu schmücken. Sie selbst habe „wenig Energie“ für Weihnachtsdeko zu Hause, sagt Judith Schächterle. Den Adventskalender hat diesmal die Haushaltshilfe befüllt und aufgehängt. Wenn Mayara im Hospiz mit Hingabe den Baum schmückt, macht es sich ihr großer „Brudi“ Kiron am liebsten auf dem Schoß seiner Mama gemütlich. Er genießt den Körperkontakt, liegt ganz ruhig auf ihr. Aber das geht nur, wenn Judith Schächterle die Ruhe dafür hat und Mayara versorgt ist, wie eben an Weihnachten im Kinderhospiz.
Sie gehörte zu den ersten Gästen nach der Eröffnung des Kinderhospizes
Anbieter von Mutter-Kind-Kuren und Rehakliniken winken ab, wenn sie von Kirons Diagnose hören und dass er auch nachts einen hohen Pflegebedarf hat. Sie könne zwar gerne kommen, hört sie dann, aber für die Nächte müsse sie einen Pflegedienst mitbringen – oder diese selbst übernehmen. Das ist für sie keine Entlastung. Als das Kinderhospiz in Stuttgart im November 2017 öffnete, gehörte sie zu den ersten Gästen.
Judith Schächterle wird oft gefragt, ob sie schon vor Kirons Geburt gewusst habe, dass er nicht gesund auf die Welt kommt. Sie irritiert diese Frage und dass sie so häufig gestellt wird. Den Gendefekt konnte man natürlich nicht im Ultraschall sehen. Die Eltern wussten von einem gutartigen Tumor unter dem Arm, den Kiron unabhängig von der Mutation hatte. Sie wussten also, dass etwas auf sie zukommen würde, rechneten mit einem „kleinen chirurgischen Eingriff“.
„Will ich das Kind lieben?“, hat sich die Mutter gefragt
Seinen ersten epileptischen Anfall hatte ihr Sohn am dritten Lebenstag, als Judith Schächterle ihn gerade stillte. Da nahm man in der Klinik noch an, dass sich das verwächst. Doch nach relativ unbeschwerten dreieinhalb Monaten, in denen Kiron an der Brust trank, lautierte, schrie, normal Stuhlgang hatte, mussten sie wieder in die Klinik. „Da sind wir dann hängen geblieben“, sagt die Mutter. Es gab einen Moment, da hat sie sich gefragt: „Will ich das Kind lieben?“ Schließlich könnte er beim nächsten Anfall sterben. Doch so erschöpft sie war, die Antwort war klar.
Judith Schächterle trägt ihren Sohn zum Pflegebett, legt ihn vorsichtig in seine Lieblingsposition, die stabile Seitenlage. Er atmet schwer gegen den Schleim an, der sich in der Luftröhre gesammelt hat. Sie streicht ihm über die Wange, wuschelt ihm durchs dichte Haar, das von einem Medikament lockig geworden ist. „So, jetzt kannst du abhusten“, spricht sie zu ihm, küsst ihn auf die Stirn. Sie ist froh, als er wenig später tatsächlich hustet. So muss sie den Schleim nicht absaugen, was unangenehm für ihn ist.
Dieses Weihnachten feiern sie, Kiron und Mayara nicht im Kinderhospiz. Ihre zwei, sie nennt sie „das liebste Kind der Welt und die süßeste Nervensäge der Welt“, sind bei ihren Vätern. So ist sie nicht dabei, wenn im Hospiz die Weihnachtsgeschichte erzählt, gemeinsam gegessen wird und Geschenke ausgepackt werden. Wenn die anderen Familien sich abends an der Feuerschale versammeln und Weihnachtslieder singen, ist sie vielleicht noch bei dem Vater ihrer Tochter oder sie genießt schon den Abend alleine. Anne Bartels Dienst endet um 21 Uhr. Dann fährt sie zu ihrer Familie und ihren erwachsenen Kindern – für ihr zweites Weihnachtsfest.