Shir Hevers grundsätzliche und kritische Betrachtung auf den gesellschaftlichen Zustand Israels
Mit 70 Leuten vollbesetzter Raum. Auch im Vorraum standen viele Menschen. Etliche mussten unverrichteter Dinge wieder gehen.
Einleitende Erläuterungen von der Nahost-Gruppe Mannheim: Zur Veranstaltung mit Shir Hever Im Büro der Partei Die Linke in Mannheim drängten sich am 17.12. etwa 70 Personen zusammen. Mehrere sind wegen der räumlichen Enge wieder gegangen. Für Veranstaltungen der Palästinasolidarität gibt es in Mannheim keine Veranstaltungsräume. Die Stadt Mannheim ebenso wie Kirchengemeinden, Gewerkschaften und andere Organisationen passen sich an die Haltung der Bundesregierung an, alles was Israel tut um jeden Preis unterstützen und sie fürchten den Druck der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und der jüdischen Gemeinde, welche die Position der Israelischen Regierung vollständig übernehmen und dafür bereit sind, die Menschenrechte der Palästinenser:innen und gleichzeitig das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit zu opfern.
Der Referent Dr. Shir Hever kennt die israelische Gesellschaft von innen. Der Ökonom hat Israel verlassen. Er forscht zu Apartheid, Kolonialismus, Besatzung und israelischer Rüstungsindustrie. Er ist Geschäftsführer von BIP e.V. (Bündnis für gerechten Frieden zwischen Israelis und Palästinensern) und Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. Sein Vortrag trägt den Titel: „Israel – eine Gesellschaft zwischen Wahnvorstellung und Erwachen daraus“.
(https://mannheimnahost.wordpress.com/ )
„Diejenigen, die in den letzten zwei Jahren gegen uns demonstriert haben, wurden durch geschickte Propaganda getäuscht, die mit Geldern von Terroristen finanziert wurde. Es gab keinen Völkermord, keine absichtliche Aushungerung.“
Shir Hever
So sagte am 14. Oktober Yair Lapid, der Vorsitzende der israelischen Opposition bei einer Rede in der Knesset, dem Parlament von Israel.
Hören Sie sich diesen Satz noch einmal an. Lapid spricht als Oppositionsführer – er möchte uns glauben machen, dass er eine Alternative zur Regierung Netanyahu darstellt. Doch was er sagt, ist praktisch identisch mit der Regierungslinie. Die kategorische Leugnung. Die Behauptung, alle Kritiker:innen seien von Terror-Propaganda getäuscht. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall – sie offenbart etwas Grundlegendes über die israelische Gesellschaft.
Während Lapid von „geschickter Propaganda“ spricht, praktiziert Israel selbst eine rigide Kontrolle über Informationen. Internationale Journalist:innen dürfen Gaza bis heute nicht betreten. Am 16. Dezember 2024 verabschiedete die Knesset in zweiter Lesung einen Gesetzentwurf, der es der Regierung ermöglichen würde, Büros internationaler Medien zu schließen. Das ist keine Verteidigung gegen Propaganda – das ist Abschottung vor der Wahrheit.
Israel unterzieht jede Veröffentlichung, die sich auf Sicherheitsfragen bezieht, einer militärischen Zensur. Journalisten riskieren eine Verhaftung, wenn sie ihre Texte nicht vorab an die Zensurbehörde schicken oder wenn sie darüber berichten, dass ihre Texte zensiert wurden.
Die eigentliche Täuschung findet also nicht bei internationalen Kritiker:innen statt, sondern innerhalb Israels selbst. Die israelischen Medien vermeiden oder beschönigen systematisch die Berichterstattung über Gaza. Die Leugnung der „absichtlichen Aushungerung“ und des Völkermord-Vorwurfs erfolgt nicht, weil es keine Belege gibt – im Gegenteil, internationale Organisationen, Menschenrechtsgruppen und Augenzeug:innen haben massenhaft dokumentiert. Die Leugnung erfolgt trotz der Beweise.
Was wir hier beobachten, ist eine kollektive Wahnvorstellung, die sich durch alle politischen Lager zieht. Von der extremen Rechten bis zur vermeintlichen Opposition. Wenn es keine politische Kraft mehr gibt, die bereit ist, die Realität anzuerkennen, wie soll dann eine Gesellschaft jemals aus dieser Krise finden?
Netanyahus Erpressung – oder: Wie Macht das Recht ersetzt
Lassen Sie uns von der kollektiven Leugnung zu einem konkreten Fall übergehen, der zeigt, wie tief die Krise reicht: Netanyahus Begnadigungsgesuch.
Benjamin Netanyahu hat Staatspräsident Jitzchak Herzog um eine Begnadigung gebeten. Formal gesehen fehlt diesem Gesuch jede rechtliche Grundlage. Eine Begnadigung setzt normalerweise ein Schuldeingeständnis voraus – genau das, was Netanyahu kategorisch verweigert. Aber darum geht es hier gar nicht. Es geht um etwas viel Grundlegenderes: um Erpressung.
Tags zuvor am 16. Dezember 2025 schilderte Rudolf Rogg im Mannheimer Naturfreundehaus die Lage der palästinensischen Olivenbauern im Westjordanland. Er konnte aus erster Hand berichten, da er gerade von einem mehrwöchigen Aufenthalt zurückkam. Zahlen von UN-OCHA dokumentieren, dass es allein in diesem Jahr zu Hunderten von Angriffen auf die Felder von Olivenbauern gekommen ist. Zahlreiche Häuser wurden von Siedlern und israelischen Sicherheitskräften zerstört, Menschen verletzt, auch getötet, und vertrieben.
Netanyahu droht unverhohlen damit, die israelische Gesellschaft zu zerreißen, sollte ihm die Begnadigung verweigert werden. Denken Sie einen Moment darüber nach, was das bedeutet. Wenn er die Begnadigung erhält, triumphiert er über das Rechtssystem und sendet die Botschaft: Wer mächtig genug ist, steht über dem Gesetz. Wird sie ihm verweigert, inszeniert er sich als Märtyrer und mobilisiert seine Anhänger:innen gegen die „Elite“. Netanyahu gewinnt in beiden Fällen.
Diese Art der Erpressung hat in Israel eine Geschichte. Erinnern wir uns an die Affäre der Buslinie 300 von 1984 bis 1986. Shin-Bet-Offiziere hatten zwei palästinensische Geiselnehmer nach ihrer Festnahme ermordet. Als sie vor Gericht gestellt werden sollten, drohten sie damit, im Prozess Staatsgeheimnisse preiszugeben. Die Konsequenz: Sie erhielten eine Begnadigung. Das Signal war verheerend – wer über brisante Informationen verfügt, kann sich der Justiz entziehen.
Und dann kam Donald Trump und erhob diese Erpressung auf eine internationale Ebene. In einer Rede vor der Knesset forderte er öffentlich, Herzog solle Netanyahu begnadigen. Die Einmischung eines ausländischen Präsidenten in ein laufendes Strafverfahren ist beispiellos. Sie legitimiert die Vorstellung, dass politische Macht über rechtliche Verantwortung gestellt werden darf.
Netanyahus Begnadigungsgesuch ist also mehr als eine persönliche Angelegenheit. In der die Drohung mit Chaos als legitimes politisches Mittel gilt. In der nicht mehr die Frage zählt, ob Recht gesprochen wird, sondern wer genug Macht besitzt, sich dem Recht zu entziehen.
In seiner Rede vor dem leeren Saal der Vereinten Nationen am 26. September erzählte Netanjahu eine Lüge nach der anderen. Er sprach zum israelischen Publikum, nicht zu den Vereinten Nationen, da die UN-Delegierten den Saal verlassen hatten. Obwohl seine Lügen leicht zu widerlegen waren. Aber die israelischen Zeitungen haben Netanjahus Lügen nicht widerlegt. Nicht einmal die Zeitung Haaretz. Sie müssen so tun, als würden sie seine Lügen glauben, weil ihnen das ein Alibi verschafft. Wenn sie sagen, dass Netanjahu sie belogen hat, können sie so tun, als trügen sie keine Verantwortung für den Völkermord. Deshalb braucht Netanjahu eigentlich keine Begnadigung. Er wird geschützt, weil die israelische Öffentlichkeit ihn braucht.
Der Zerfall – Wenn eine Gesellschaft in Stämme zerfällt
Nun möchte ich einen Schritt zurücktreten und fragen: Wie konnte es so weit kommen? Um das zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie die israelische Gesellschaft intern funktioniert – oder vielmehr: wie sie nicht mehr funktioniert.
Israel bezeichnet sich selbst als „Nationalstaat“. Ein Nationalstaat ist eigentlich ein Staat, in dem die Mitglieder der Nation und die Bürger:innen des Staates dieselbe Gruppe bilden. Aber Israel war niemals ein Nationalstaat in diesem Sinne. Die gesamte Struktur basiert darauf, dass die jüdische Nation und die Bürger:innen Israels zwei verschiedene, sich überschneidende Gruppen sind. Das Grundgesetz von 2018, ironischerweise „Gesetz des Nationalstaats“ genannt, macht dies explizit: Israel gehört der jüdischen Nation, und nicht-jüdische Bürger:innen haben nur individuelle Rechte, aber keine kollektiven Rechte.
Das ist Apartheid. Aber Apartheid bedeutet nicht einfach, dass manche Menschen mehr Rechte haben als andere. Apartheid bedeutet: Niemand hat wirklich Rechte. Was Israel anbietet, sind Privilegien. Und Privilegien sind etwas ganz anderes als Rechte.
Rechte sind unveräußerlich – sie gehören dir, weil du Mensch bist. Privilegien hingegen sind abgestuft, unsicher, jederzeit entziehbar. Der rassistische Diskurs in Israel sagt es ganz offen: Wenn palästinensische Bürger:innen „erlaubt“ wird, leitende Positionen zu bekleiden, sollten sie „dankbar“ dafür sein. Es ist nicht ihr Recht – es ist ihr Privileg.
Und weil Privilegien so prekär sind, kämpft jede Gruppe verzweifelt darum, ihr Privileg zu bewahren. Das erklärt zum Beispiel, warum die Organisator:innen der Proteste gegen Netanyahu palästinensische Flaggen verboten haben. Sie wollten ihr eigenes Privileg nicht gefährden, indem sie sich mit den wirklich Rechtlosen solidarisierten.
Hier ist ein gutes Beispiel dafür. Während der Covid-Krise nutzte Netanyahu das Regime der Privilegien, um Israelis davon zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Er kündigte an, dass Israel Palästinenser:innen im Westjordanland und in Gaza keine Impfstoffe zur Verfügung stellen würde, obwohl diese Politik die Gesundheit der Israelis gefährdete, und sicherte sich die erste Impfung für sich selbst, die er im Live-Fernsehen erhielt. Netanyahu verwandelte so den Impfstoff in ein Privileg, ein Statussymbol, das den eigenen Platz in der strengen Hierarchie beweist. Israel wurde innerhalb von Wochen die am höchsten geimpfte Gesellschaft der Welt in Pro-Kopf-Zahlen – solange man nur Bürger:innen zählt. Als der Hype um das Privileg des Zugangs zum Impfstoff nachließ, wurde Israel schnell von den VAE bei der Impfrate überholt und fiel dann weiter zurück.
2015 hielt der damalige Präsident Reuven Rivlin eine berühmte Rede über die „vier Stämme“ Israels: die „israelischen Araber“ (ein abwertender Begriff für palästinensische Bürger:innen), die Ultra-Orthodoxen, die Mizrahi und die Aschkenasim. Seine Rede war bereits ein Eingeständnis des Scheiterns – die „Schmelztiegel“-Fantasie Israels funktioniert nicht. Die Siedlerkolonie zerfällt in rivalisierende Gruppen.
Aber es gibt nicht vier Stämme – es gibt viel mehr. Und sie werden immer mehr. Apartheid tendiert ihrer Natur nach zu immer komplexeren Hierarchien. Seit 2014 konnte keine Koalition mehr eine vollständige Amtszeit überstehen. Netanyahu schmiedete eine Ad-hoc-Koalition nach der anderen, jedes Mal eine andere Mischung von Parteien, die vom Versprechen auf Macht angelockt wurden. 2021-2022 gab es sogar eine Koalition aus acht Parteien, vereint durch nichts außer ihrer Opposition gegen Netanyahu – von einer islamischen Partei bis zu einer islamophoben, halbfaschistischen Partei. Sie schaffte es nicht, irgendetwas zu verändern, und brach schnell auseinander.
Die politische Instabilität ist kein Zufall. Während der jüdische Nationalismus in Stämme zerfällt, bleibt die palästinensische Nation intakt. Das ist die simple Wahrheit, die keine zionistische Partei aussprechen kann: Die Alternative wäre, die kollektiven Rechte der Palästinenser:innen auf Selbstbestimmung in ihrem eigenen Land anzuerkennen. Und das ist für zionistische Jüdinnen und Juden undenkbar.
Dieser Zerfall hat das Militär besonders hart getroffen. Der israelische Professor und ehemalige General Yagil Levy hat dokumentiert, wie sich Israels Armee in zwei Teile gespalten hat: die „ausgeklügelte Armee“ und die „brutale Armee“. Die Luftwaffe, Drohneneinheiten, Geheimdienste – das ist die „ausgeklügelte“ Armee, hauptsächlich aschkenasisch, säkular, gut ausgebildet. Die Infanterie, Artillerie, Panzer – das ist die „brutale“ Armee, hauptsächlich mizrahisch, religiös, schlecht ausgebildet.
2016 erschoss der Soldat Elor Azaria einen bereits festgenommenen Palästinenser in Hebron. Es wurde gefilmt. Azaria argumentierte vor Gericht, das Töten von Palästinenser:innen sei sein Recht – und Kampfpiloten, die fast alle Aschkenasim sind, würden niemals vor Gericht gestellt wenn sie Zivilist:innen töten. Er erhielt massive Unterstützung aus der Öffentlichkeit und dem Militär. Er repräsentierte eine Fraktion, die sich diskriminiert fühlte – die folgen muss, aber nichts zurückerhält.
Heute wird weniger als die Hälfte der 18-Jährigen zum Militärdienst eingezogen. Wenn ganze „Stämme“ befreit sind – Muslim:innen, religiöse Frauen, Ultra-Orthodoxe – wird es leicht, sich zu drücken.
Und dann kam der Völkermord in Gaza. Die Transformation des Militärs war damit abgeschlossen. Soldaten schmückten ihre Uniformen mit religiösen und politischen Symbolen – technisch illegal, aber niemand scherte sich darum. Befehlsverweigerung wurde nicht bestraft, egal ob Soldat:innen Gräueltaten begingen oder desertierten. Die militärische Disziplin löste sich auf.
Im Juli 2024 erreichten die Spannungen einen Höhepunkt. Israelische Medien enthüllten, dass das Haftlager Sde Teiman ein Ort systematischer Folter war, einschließlich sexueller Folter von palästinensischen Gefangenen. Als die Wachen verhaftet werden sollten, mobilisierte sich eine Miliz, um dies zu verhindern – unterstützt von Knesset-Mitgliedern und Ministern. Der mächtigste Journalist Israels, Amit Segal, scherzte, das Problem mit der Vergewaltigung von Palästinenser:innen sei, „erwischt zu werden“.
Als die militärische Chefanklägerin Yifat Tomer-Yerushalmi versuchte, die Misshandlungen zu untersuchen, wurde sie als „Verräterin“ beschimpft. Sie trat zurück und wurde später verhaftet. Yagil Levy kommentierte: Ihre Identität – aschkenasisch, säkular, gut ausgebildet – hatte ihre Autorität untergraben.
Ihre Aufgabe als Chefanklägerin der Militärjustiz war es, israelische Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen. Sie tat dies jedoch nicht, woraufhin sowohl der Internationale Strafgerichtshof als auch der Internationale Gerichtshof zu dem Schluss kamen, dass Israel kein Rechtsstaat ist und dass sie eingreifen müssen. Die Macht von Tomer-Yerushalmi beruhte jedoch auf Privilegien, nicht auf Rechten. Sobald sie versuchte, ein Verfahren gegen die Gefängniswärter in Sde Teiman einzuleiten, wurden ihr ihre Rechte entzogen, sie wurde verhaftet und sogar von den liberalen Medien diffamiert.
Minister Itamar Ben-Gvir schuf seine „Nationalgarde“, eine bewaffnete Siedlermiliz, und entkernte die Polizei. Proteste gegen den Krieg werden mit brutaler Gewalt unterdrückt. Die Repression richtet sich nicht nur gegen Palästinenser:innen, sondern auch gegen die eigenen Eliten.
Was wir beobachten, ist der Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols. Israels Gesellschaft zerfällt in rivalisierende Stämme, die sich gegenseitig bekämpfen, während die extreme Rechte die Siedlerkolonie selbst zerstört.
Wissen und Nicht-Wissen – Die Psychologie der kollektiven Täuschung
Jetzt kommen wir zur vielleicht schwierigsten Frage dieser Vorlesung: Wie ist das psychologisch möglich? Wie kann eine ganze Gesellschaft einen Völkermord begehen und gleichzeitig leugnen, dass er stattfindet?
Hier müssen wir sehr vorsichtig sein. Zwei Extreme bedrohen unser Verständnis: Wenn wir sagen, die Israelis wüssten genau, was passiert, und die Leugnung sei bloße Propaganda, dann unterschätzen wir die Macht der Selbsttäuschung. Aber wenn wir sagen, sie seien Opfer einer Desinformationskampagne und wüssten wirklich nichts, dann sprechen wir sie von moralischer Verantwortung frei.
Der Soziologe Stanley Cohen bietet uns einen Weg durch dieses Dilemma mit seinem Konzept des „kolonialen Blicks“. Dieser Blick ist immer ein doppelter Blick. Israelis wissen und wissen gleichzeitig nicht. Sie erkennen, dass israelische Medien ihnen Versionen der Realität liefern, mit denen sie leben können. Deshalb vermeiden sie sorgfältig, sich internationalen Medien auszusetzen, obwohl diese online verfügbar sind. Um nicht über die Schrecken in Gaza zu erfahren, müssen sie etwas darüber wissen, was sie vermeiden müssen.
Denken Sie an die Nakba. Israelis haben die Nakba jahrzehntelang geleugnet. Gleichzeitig beklagten sie, Ben-Gurion habe „die Arbeit nicht zu Ende gebracht“, und drohten mit einer „zweiten Nakba“. Sie wissen und wissen nicht – zur gleichen Zeit.
Cohen schrieb über das Konzentrationslager Mauthausen in Österreich. Es gab dort einen ungeschriebenen Vertrag: Die Behörden verbergen die Gräueltaten, und die Öffentlichkeit unternimmt keine Anstrengungen, etwas herauszufinden. Beide Seiten halten den Deal ein.
Israelische Wissenschaftler:innen haben gezeigt, wie diese Mechanismen über Jahrzehnte der Besatzung entwickelt und perfektioniert wurden. Aber mit dem Völkermord in Gaza wurde dieser Mechanismus bis über seinen Bruchpunkt hinaus belastet. Der doppelte Blick beginnt zu versagen.
Die Zeichen sind überall. Eine Welle von Suiziden und Suizidversuchen unter israelischen Soldaten. Militärpsychiater:innen warnen vor „moralischen Verletzungen“. Der Haaretz-Journalist Nir Hasson sprach über das entsetzliche Ködern hungriger Gazaner:innen an Hilfsposten und das anschließende Niederschießen durch israelische Soldaten. Als er gefragt wurde: „Ist das also Völkermord?“, antwortete er: „Ich habe Angst zu antworten, weil ich hier Kinder großziehen muss.“
Hören Sie diese Aussage. Ein Journalist, der die Fakten kennt, kann die einfache Frage nicht beantworten – aus Angst. Die Verbreitung von Suiziden unter Soldaten zeigt, wie tödlich Bewusstsein sein kann. Die Suizide haben sich vermehrt, als Soldat:innen begannen zu erkennen, dass sie sich selbst belogen hatten.
Die Desinformation begann vom ersten Tag an. Am 16. Oktober 2023, als die Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Sliman ausrief: „Warum tötet ihr die Kinder?“, antwortete Merav Ben-Ari von der Oppositionspartei Yesh Atid: „Die Kinder haben es sich selbst zuzuschreiben.“ Ein weiteres Beispiel: Israelis sprechen konsequent von „Khamas“ statt „Hamas“ – sie ersetzen den arabischen Buchstaben und verwandeln das Akronym „Islamische Widerstandsbewegung“ in einen bedeutungslosen Namen. Eine bewusste Weigerung, anzuerkennen, wie die Bewegung tatsächlich heißt.
Ich lehne die Behauptung ab, dass der Zionismus von Natur aus völkermörderisch sei. Der Zionismus ist kolonial, und Siedlerkolonialismus versucht, die Einheimischen zu eliminieren. Aber es gibt eine rote Linie zwischen Eliminierungsphantasien, Massenvertreibung und ethnischer Säuberung einerseits und dem tatsächlichen Versuch, eine gesamte Bevölkerung auszurotten andererseits. Diese rote Linie ist die Definition von Völkermord. Weder Ze’ev Jabotinsky, der zu einem permanenten Kriegszustand gegen die indigenen Palästinenser:innen aufrief, noch Yitzhak Rabin, der 1992 sagte, er wünschte, Gaza würde „im Meer versinken“, haben diese Linie überschritten, weil sie verstanden, dass ihre Überschreitung das Ende des zionistischen Projekts bedeuten würde.
Aber jetzt wurde diese Linie überschritten. Und die Leugnungsmechanismen arbeiten auf Hochtouren.
Diese Mechanismen erzeugen einen Schneeballeffekt. Die Angst vor dem Herauskommen der Wahrheit befeuert die Phantasien, den Völkermord zu vollenden und alle Zeug:innen zu eliminieren. Der Schrecken der Rechenschaftspflicht trägt zur völkermörderischen Absicht bei. Während Israelis begreifen, dass Überlebende bleiben werden, um auszusagen, suchen sie verzweifelt nach Alibis.
Das erste Alibi sind die sozialen Medien. Der Journalist Guy Rolnik produzierte eine hastig zusammengestellte Dokumentarserie, die soziale Medien für eine weltweite Bewusstseinsmanipulation verantwortlich macht – die Welt habe „das Hamas-Narrativ“ übernommen. Rolnik erklärt nie, wie Hamas die Ressourcen erworben haben soll, um Meta und X zu manipulieren – Konzerne, die nachweislich eine pro-israelische Voreingenommenheit haben. Wenn Haaretz über israelische Gräueltaten berichtet, werden die Autor:innen sofort als „iranische Bots“ beschimpft.
Nach zwei Jahren Völkermord änderte Rolnik seine Position um 180 Grad, ohne dies zuzugeben. Anstatt zu behaupten, dass die Israelis die Wahrheit kennen und die ganze Welt in einer Lüge lebt, behauptet er nun, dass der durchschnittliche US-Bürger mehr über die Geschehnisse in Gaza weiß als der durchschnittliche Israeli. Rolnik hat seine Dokumentarserie nicht von der Website entfernt, denn damit würde er seine Rolle in der Propaganda bekennen, die den Völkermord ermöglicht hat. Aber auch seine Behauptung, dass die Israelis nichts wissen, ist Teil dieses Rechtfertigungsmechanismus.
Das zweite Alibi ist künstliche Intelligenz. Israel ist der erste Staat, der KI nicht nur zur Unterstützung, sondern zur tatsächlichen Generierung von Bombardierungszielen einsetzt. Die KI-Tools – Lavender, The Gospel, The Alchemist, Where’s Daddy – ermöglichten es, schnell Ziele zu generieren. Als der Journalist Yuval Abraham mit Geheimdienstoffizieren sprach, war deren Hauptbotschaft: Wie leicht die KI es macht, ein Ziel unkritisch zu akzeptieren und den Abzug zu drücken. Wie die KI sie „überzeugt“, ihre Zweifel beiseite zu schiegen. Professor Sebastian Ben-Daniel, der als „Linker“ gilt, behauptete, die Zerstörung Gazas sei die Schuld der KI, nicht der Soldaten. Ein perfektes Alibi. Dies erklärt auch, warum die Beamten bereit waren, mit Yuval Abraham zu sprechen, und warum die Zensur die Veröffentlichung der Artikel zuließ. Auch sie wollen die KI als Alibi.
Das dritte Alibi ist die Angst vor Antisemitismus. Um die Abwanderung der Elite zu stoppen, verbreiten israelische Medien Angst vor einer wachsenden Welle des Antisemitismus weltweit. Als israelische Hooligans im November 2024 in Amsterdam randalierten, wurde dies als „Pogrom“ dargestellt. In seiner UN-Rede bezog sich Netanyahu auf eine Holocaust-Überlebende, die „in Colorado bei einem antisemitischen Vorfall zu Tode verbrannt“ worden sei. Barbara Steinmetz ist noch am Leben. Die Zahl der in antisemitischen Vorfällen weltweit getöteten Jüdinnen und Juden 2023-2025 ist weniger als 1% der in Palästina getöteten Jüdinnen und Juden.
Nun müssen wir noch das Massaker von Bondi vom Sonntag erwähnen. Wenn wir verstehen wollen, wie Antisemitismus als Alibi benutzt wird, um in der israelischen Gesellschaft Zustimmung für den Völkermord zu erzeugen, ist das Massaker von Bondi ein gutes Beispiel, denn die israelischen Behörden und pro-israelischen Organisationen feierten den Angriff, als wäre er ein Beweis dafür, dass Jüd:innen nur in Israel leben sollten. Netanjahu machte Australien dafür verantwortlich, dass es den Staat Palästina anerkannt hatte.
Das vierte und vielleicht perfideste Alibi ist die Umkehrung von Täter und Opfer. Israelische Propaganda beschuldigt Palästinenser:innen genau der Verbrechen, die Israel gegen sie begeht. Das ist ein Phänomen, das in sozialen Medien als „jede Anschuldigung ist ein Geständnis“ bekannt geworden ist. Dadurch wird gleichzeitig zusätzliche Gewalt gerechtfertigt und die Verantwortung geleugnet. Die Bombardierung des Al-Ahli-Krankenhauses am 17. Oktober 2023 ist ein Beispiel. Israel beschuldigte den Palästinensischen Islamischen Jihad und veröffentlichte ein angeblich abgefangenes arabisches Gespräch. Es wurde als gefälscht entlarvt – die Sprecher hatten libanesische, keine gazanischen Akzente.
Oder nehmen wir den Begriff „Geiseln“. Israel bezeichnet alle israelischen Gefangenen als „Geiseln“, auch gefangene Soldaten – obwohl die Gefangennahme von Kombattant:innen nach internationalem Recht zulässig ist. Gleichzeitig hält Israel Tausende Palästinenser:innen ohne Gerichtsverfahren unter schrecklichen Bedingungen fest, ausdrücklich um ihre Freilassung zu verhandeln. Diese werden niemals als „Geiseln“ bezeichnet.
Als israelische Gefangene in Gaza starben, wurde berichtet, sie seien „in Gefangenschaft ermordet“ worden – selbst wenn die Todesursache Hunger, Krankheit oder eine israelische Bombe war. Mindestens 98 Palästinenser:innen starben in israelischen Gefängnissen an Folter, Hunger und Verweigerung medizinischer Behandlung. Die israelischen Medien bezeichneten diese Todesfälle niemals als Morde.
Schlussbetrachtung – Eine Gesellschaft ohne Zukunft?
Lassen Sie uns zusammenführen, was wir gesehen haben.
Erstens: Die Leugnung durchzieht alle politischen Lager. Wenn sogar die Opposition dieselbe Realitätsverweigerung praktiziert wie die Regierung, gibt es keine Kraft mehr für eine Kurskorrektur.
Zweitens: Die Erpressung ist zum Regierungsprinzip geworden. Wer genug Macht besitzt – durch politischen Einfluss oder brisante Staatsgeheimnisse – kann sich dem Recht entziehen. Die nihilistische Vorstellung, dass Macht Recht schafft, ist sehr gefährlich. Als Netanjahu sagte, Israel müsse zu einem „Super-Sparta“ werden, machte er deutlich, dass seine Politik von Macht und nicht von Ethik geleitet wird.
Drittens: Die Gesellschaft zerfällt in rivalisierende Stämme. Das Apartheidsystem, das auf Privilegien statt Rechten basiert, hat eine Fragmentierung erzeugt, die selbst das Militär erfasst hat. Der Staat verliert sein Gewaltmonopol.
Viertens: Die psychologischen Mechanismen des doppelten Blicks haben ihren Bruchpunkt erreicht. Die Suizide unter Soldaten, die Angst von Journalist:innen, die verzweifelten Alibis – all das zeigt, dass die Realität nicht mehr vollständig verdrängt werden kann.
Diese vier Dimensionen verstärken sich gegenseitig in einer tödlichen Spirale. Die politische Leugnung braucht die Fragmentierung, weil eine geeinte Opposition gefährlich wäre. Die Fragmentierung braucht die Erpressung, weil nur durch das Aussetzen von Rechtsstaatlichkeit die konkurrierenden Stämme kontrollierbar bleiben. Die Erpressung braucht die psychologische Verdrängung, weil die volle Konfrontation mit der Realität das System zum Einsturz bringen würde. Und die Verdrängung braucht die politische Leugnung, um zu funktionieren.
Doch genau diese wechselseitige Abhängigkeit macht das System so fragil. Der doppelte Blick versagt. Israelische Soldat:innen kehren mit moralischen Verletzungen zurück, die nicht zu heilen sind. Die internationale Isolation wächst. Die wirtschaftlichen Kosten werden untragbar. Die interne Gewalt eskaliert. Und vor allem: Die Überlebenden in Gaza werden Zeugnis ablegen. Die Wahrheit lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken.
Israel steht vor einer existenziellen Wahl, die es bisher kategorisch verweigert: Entweder konfrontiert sich die Gesellschaft mit der moralischen Katastrophe, beendet die Besatzung, das Apartheidsystem und den Völkermord, und beginnt einen schmerzhaften Prozess der Rechenschaft – oder die Siedlerkolonie zerfällt unter dem Gewicht ihrer eigenen Widersprüche.
Ohne eine radikale Auseinandersetzung mit der moralischen Krise, ohne die Anerkennung der Nakba und des aktuellen Völkermords, ohne die Bereitschaft, das koloniale Projekt zu beenden und echte Gleichberechtigung zu ermöglichen, hat der Staat Israel keine Zukunft. Die Wahnvorstellung kann nicht ewig aufrechterhalten werden.
Die Israelis werden trotz aller internen Widersprüche, Korruption, Traumata und Wahnvorstellungen ihren eigenen Staat nicht zerstören. Der palästinensische Widerstand kämpft ums Überleben und für seine Rechte. Aber er kämpft einen ungleichen Kampf zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Menschenrechtsaktivisten und kleine bewaffnete Guerilla-Gruppen auf eine Seite, und Israels System der Unterdrückung mit internationaler Komplizenschaft auf der Andere.
Wir sollten jedoch auch unsere Rolle als Deutschland nicht vergessen. Deutschland ist mitschuldig an den Verbrechen Israels. Deutschland ermöglicht Völkermord, und das ist schockierend und traurig. Aber wir sollten nicht den Fehler machen zu sagen, dass Deutschland derjenige ist, der diesen Völkermord begeht. Die Verantwortung liegt bei den israelischen Beamten, Soldaten und Siedlern. Ebenso wenig können wir Palästina befreien oder den Völkermord von hier aus stoppen. Wir können Solidarität zeigen, was sehr wichtig ist, und den Palästinensern die Mittel geben, die sie brauchen, um sich selbst zu befreien.
Der Vortag von Shir Hever wurde sinngemäß zusammengefasst von Gertrud Rettenmeier.



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