Was für ein Chaos zum Herbstbeginn 1999: Morgens um 10 Uhr wird Wolfgang Marmulla vom Hotel angerufen – einem gefeierten Regisseur sei sein Zimmer zu laut. Um 11 hat Christoph Schlingensief bereits ein Militärzelt auf dem Stuttgarter Schlossplatz aufgebaut, beschließt dann aber, mit seiner Entourage weiterzuziehen, um den Schillerplatz mit Wagner zu beschallen. Dafür haben weder er noch das Theaterhaus, also Wolfgang Marmulla, eine Genehmigung, worauf die Besatzung von mittlerweile einem halben Dutzend Polizeiautos den angestrengt mobil telefonierenden Raucher im schwarzen Pullover freundlich aber bestimmt hinweist. Abends endet auch die Veranstaltung im Gewerkschaftshaus im Chaos, woraufhin der vom Theaterhaus engagierte Schlingensief verschwindet, um später im Radio zu verlautbaren, er arbeite in Stuttgart mit dem Theater in der Badewanne zusammen. Das liegt im Killesberg-Park und unterhält Kinder mit Figurenspiel.

Kaum weniger verworren war die Lage, als im April 2005 die Rockband The Hives und der Chansonnier Tim Fischer gleichzeitig in den beiden nebeneinanderliegenden Sälen T1 und T2 des Theaterhauses auftreten sollten: „Beim Soundcheck der Hives wusste ich, das gibt eine Katastrophe“, sagt Wolfgang Marmulla 20 Jahre später, „Dröhnen gegen sanft.“ Als verantwortlicher Programmplaner hatte er Glück, dass die Hives drei Vorbands mitbrachten und ihr Mann am Mischpult nachsichtig gestimmt war, was die erforderliche Lautstärke der Einheizer betraf. Gleichzeitig konnte Wolfgang Marmulla Tim Fischer überreden, auf seine Pause zu verzichten: „Beim ersten dröhnenden Ton der Hives war Tim Fischer schon fertig“, erzählt Marmulla. „Pelzpublikum stieg danach über die ersten Alkoholleichen, Hives-Fans, die’s nicht mehr zum Konzert geschafft haben.“

Kaufmännische Ausbildung bei IBM

Die Souveränität, mit der Wolfgang Marmulla kniffelige Situationen des Kulturbetriebs zu managen imstande ist, deutet mitnichten darauf hin, wie verschlungen die Pfade einst waren, auf denen er Ende 1991 ins Theaterhaus gelangte. Denn zunächst hatte er gar keinen Plan: „Als ich mit der Realschule fertig war, hatte ich keine Ahnung, was ich auf der Welt soll.“ Sportlehrer wäre er gerne geworden, aber für 17-Jährige mit Realschulabschluss gab es keinen Weg zu diesem Ziel. Also machte er bei IBM in Schönaich eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich, weil sein Vater dort schaffte: „Deplatzierter als ich konnte man nirgends sein“, erzählt Wolfgang Marmulla, „Ich hab die zweieinhalb Jahre überlebt, weil ich Gott sei Dank mit einer relativ guten, schnellen Auffassungsgabe gesegnet bin.“ Aber die half nur bedingt: „Mich hat das so was von null interessiert, diese Menschen, dieser Moloch an Verwaltung. Ich hatte ein Magengeschwür mit 17.“

Dennoch blieb er nach seiner Ausbildung beim Weltkonzern. Tagsüber saß er im Großraumbüro, abends und an den Wochenenden engagierte er sich in der evangelischen Kirche: Er war „richtig schwer verliebt in ein Mädchen, das da sehr aktiv war“. Die nächtelangen Diskussionen bei vielen Zigaretten über Ernesto Cardenals Befreiungstheologie begeisterten ihn: „Da wurde intellektuelle Redlichkeit im Glauben eingefordert.“ Also beschloss er, Theologie zu studieren, holte deshalb zunächst das Abi nach: „Es war hart, aber diese drei Jahre auf dem Kolleg in Sindelfingen waren die besten Jahre, die ich hatte. Denn da begann der Intellekt zu erwachen, die Lust am vertieften Auseinandersetzen.“ Er war Klassenbester, aber danach in Tübingen der Erste, der sein Theologiestudium abgebrochen hat: Er sei an Altgriechisch gescheitert, erzählt er, aber auch an der Stadt, die er als „zu düster, zu eng“ empfunden hat. Mit 26 stand er wieder vor dem Nichts.

Leidenschaftliche Diskutanten: Wolfgang Marmulla (links) und Werner Schretzmeier im Jahr 2014 Foto: Ralf E. Neipp

Auch weil nun der Wehrdienst drohte, und es für Wolfgang Marmulla „undenkbar war, dass ich zum Militär gehe“, ging er nach Berlin: „Das war wunderbar. Dieser Beton, dieses Glas! Dieses Nicht-Altehrwürdige: keine 500 Jahre alten Gemäuer!“ Ein paar Monate lang besuchte er Filmseminare, „aber das war eine Gedankenblase, die sich jenseits jeder Realisierbarkeit befand. Recht schnell war klar: Das kann ich mir abschminken.“ Also schrieb er sich für Philosophie, Amerikanistik und Theaterwissenschaften ein, traf „hippe Leute, keine Nerds“, machte Bekanntschaft mit Mode und Männerparfüms und findet in der Rückschau: „Der hedonistische Marmulla wurde da stimuliert.“ Der allerdings stellte bald fest: „Mich interessiert dieses Wissenschaftliche gar nicht, mich interessiert das Existenzielle.“ Außerdem fand er den Berliner Winter zermürbend, diese Mischung aus „Kohle, Kälte, Krieg“.

Während seines Heimaturlaubs im Schwäbischen bat ihn ein Kumpel, beim Transport von Luftballons zu helfen, die dummerweise mit Acetylengas gefüllt waren. Die Ladung explodierte, Marmullas Trommelfell löste sich auf, er musste operiert werden: „Damit war Berlin dann auch weg.“ Mit 28 stellte sich ihm die Fraget: Was nun?

Wolfgang Marmulla spielte Gitarre, er mochte Werner Lämmerhirt und Hannes Wader, „aber zum Aussteigen hat mir sozusagen der Mut gefehlt“. Stattdessen sollte er trotz Tinnitus zur Bundeswehr, entschied sich aber für Zivildienst bei der mobilen Jugendarbeit in Stuttgart-Hallschlag. Von dort nahm er O-Töne zum Praktikum beim evangelischen Rundfunk mit.

Dann wollte er Kulturmanagement studieren, wurde jedoch mit Ende 20 als zu alt empfunden, antwortete auf eine Anzeige des Theaterhauses in der Stuttgarter Zeitung. Gesucht wurde jemand für die Disposition. „Vier Mal musste ich antanzen“, erinnert sich Marmulla, dann wurde er eingestellt, war anfangs wenig begeistert: „Das war nicht so mein Style, zu sehr Hippie.“ Aber er merkte schon damals, dass es dort „spannende Projekte“ zu verwirklichen gab, die seinem Credo entsprachen: „So viel Chaos wie möglich und so wenig Struktur wie nötig.“

Nach drei Jahren „alles Mögliche Koordinatorische und Organisatorische“ holte ihn der Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier, seine „Vaterfigur“, in die Programmplanung, obwohl er anfangs keineswegs „Daddys best boy“ gewesen sei. Inzwischen findet er: „Werner ist die prägendste Persönlichkeit in meinem Leben. Ich kann auch unverfroren sein. Seine Unverfrorenheit, sein Instinkt und sein Mut haben mich beeindruckt.“

Nun durfte Wolfgang Marmulla seine ersten Veranstaltungen, damals noch in Stuttgart-Wangen, selber verantworten, und lernte das Theaterhaus lieben, „diese Bandbreite von der Kleinen Tierschau bis Tanztheater“, wie er sagt. Er stellte fest: „Man verbindet sich mit diesem Organismus.“ Marmulla erzählt, dass Sieben-Tage-Wochen nichts Ungewöhnliches gewesen seien, und dass er sein Leben mehr oder weniger ins Theaterhaus verlagert habe.

Ein Leben zwischen Landshut und dem Pragsattel

Heute pendelt er. Eine Woche verbringt er mit seiner Frau und dem gemeinsamen inzwischen neunjährigen Sohn in Landshut, die nächste Woche blickt er von seinem Büro am Pragsattel aus auf die sechsspurige Straße und die Glasfassade eines Hotels, im Hintergrund Weinberge. Im Flur hängen alte hölzerne Postfächer, die an überdimensionierte Setzkästen erinnern, und im Treppenhaus hängen alte Plakate wie jenes vom österreichischen Kabarettisten Josef Hader, den Wolfgan Marmulla einst für drei Abende in der kleinsten Theaterhaus-Halle engagiert hatte. Zehn Tage vor der Premiere waren drei Eintrittskartenarten verkauft, und manche von Marmullas Kollegen wollten das Gastspiel absagen. Dann lud er für den ersten Abend 80 Gäste vom Staatstheater ein, für den zweiten Abend konnte er daraufhin 80 Karten verkaufen. „Und am dritten Abend haben wir so kriminell bestuhlt, dass 150 Leute in der Halle saßen“, erzählt er.

Wolfgang Marmulla wollte und will Risiken eingehen, Dinge ausprobieren, was wagen: „1994 besetzten wir ein internationales Ensemble als Reaktion auf den Jugoslawienkrieg. Werners Idee fand ich bahnbrechend.“ Überhaupt hatte dieser Werner, Nachname Schretzmeier, großen Anteil daran, dass Wolfgang Marmullas viele seiner 34 Jahre im Theaterhaus „wie einen Sog“ erlebt hat: „Werner hat immer gesagt, ,Leben und Arbeit müssen sich verbinden.‘ Nicht dieses dualistische Verhältnis, tagsüber Fronarbeit und dann abends endlich die Freiheit.“ Nach Ismal Ivos forderndem Tanztheater forderte Eric Gauthier mit der neuen Theaterhaus-Tanzkompanie Gauthier Dance Kultur für alle. „Auch dieses Phänomen hat nur im Theaterhaus heimisch werden können“, sagt Wolfgang Marmulla, der auch die Zusammenarbeit von Jazz-Nerds und Jazz-Hassern spannend fand, „Theater, das nicht über 40 Umwege decodiert werden will“, überhaupt das Heterogene.

Der Kronprinz wird doch nicht mehr König

Jedenfalls ist Wolfgang Marmulla über die Jahrzehnte so mit dem Theaterhaus verwachsen, dass manche in ihm den ewigen Kronprinzen gesehen haben, den natürlichen Leiter nach dem Ruhestand des Gründers. Aber anders als Prinz Charles, der im Vereinigten Königreich doch noch gekrönt wurde, geht Wolfgang Marmulla (67) zum 31. Dezember vor Werner Schretzmeier (81) in den Ruhestand, der ihm schon vor vielen Jahren gesagt haben soll, er mache jetzt noch ein bisschen Regie, dann müsse er ran.

„Ich bin kein Vatermörder“, sagt der Leiter der Abteilung Programmplanung und Koordination, der noch mindestens ein Jahr lang „als Satellit“ mit dem Theaterhaus verbunden bleiben will, der sich vorstellen kann „bei einer für mich spannenden Theaterproduktion dramaturgisch mitzuwirken“, und der sich ansonsten auf das „Abenteuer family life“ fokussieren möchte. Nach dem Gespräch im Theaterhaus schickt er noch eine E-Mail mit seiner Definition des Begriffs Abenteuer: „Eine Unternehmung, die über das Gewohnte hinausgeht, oft mit Risiko verbunden ist oder eine unerwartete Wendung nimmt.“

Unerwartete Wendungen findet der zupackende Geistesmensch Marmulla ebenso wichtig wie die Dualität von Unterhaltung und intellektueller Herausforderung. Die Gesellschaft benötige beides, das Theaterhaus sowieso. Dem Theaterhaus, das sich mit Wolfgang Marmulla vom Underdog zur etablierten Institution entwickelt hat, wünscht er, „dass es sich diese kritische Distanz zum Establishment bewahrt, egal welcher Art.“