Auf Russland kommen im nächsten Jahr viele Herausforderungen zu: fallende Exporteinnahmen, Rezession, immer höhere Kosten der Kriegsführung und Rekrutierung. Auch innenpolitisch häufen sich die Alarmsignale. Putin hat eine bestimmte Strategie, damit fertig zu werden.
Der Ukraine-Krieg lief für Russland zunächst nicht wie geplant. Der Versuch, Kiew einzunehmen, schlug katastrophal fehl. Aus einer für wenige Wochen ausgelegten Militäroperation wurde ein Abnutzungskrieg, der bald länger andauert als der „Große Vaterländische Krieg“ der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland. Der russische Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft haben sich dieser Realität angepasst. Die Herausforderungen haben sich im Laufe des Krieges geändert, der Kreml muss also nachjustieren und die entsprechenden politischen Kosten tragen.
Militär
Militärisch nähert sich Russland langsam dem von Wladimir Putin erklärten Ziel an: der vollständigen Kontrolle des Donbass sowie der Gebiete Saporischschja und Cherson. Immer wieder betont Putin, er könne seine Ziele in der Ukraine militärisch erreichen. Dieser Trend dürfte sich im kommenden Jahr fortsetzen. Allerdings werden die Kosten für den Kreml in mehrfacher Hinsicht weiter steigen.
Kürzlich hat das russische Verteidigungsministerium erstmals explizit die Kosten der „Spezial-Militäroperation“ genannt. Im Jahr 2025 betrugen sie 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder umgerechnet 119 Milliarden Euro. Damit hat der Kreml etwas mehr als ein Viertel der gesamten Ausgaben des Staatshaushalts für den Krieg ausgegeben. An diesem Verhältnis wird sich wohl im kommenden Jahr wenig ändern.
Russland hat in fast vier Kriegsjahren einen großen Teil seiner Sowjet-Reserven von Panzern und Geschützen verloren. Vor allem Panzer werden zunehmend kostspielig neu produziert, statt aus dem Reservebestand aufgerüstet.
Für die aktuelle Strategie der Russen in der Ukraine stellt das aber kaum ein Problem dar, das ist eher eine Herausforderung für Europa angesichts der Gefahr eines möglichen Konflikts zwischen Russland und der Nato. In der Ukraine dürfte Russland auch im kommenden Jahr weiterhin auf leichte Infanterie sowie Drohnen- und Raketenangriffe setzen, stellenweise unterstützt von Panzer- und Artillerieangriffen.
Schon jetzt ist Russland in der Lage, zwischen 5000 und 6000 Langstrecken-Drohnen pro Monat in der Ukraine einzusetzen, und mit einer Zunahme ist zu rechnen. Die Zahl der Marschflugkörper und ballistischen Raketen, mit der Russland monatlich die Ukraine angreift, liegt bei etwa 200 – ein starker Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren.
In Frontnähe setzt die russische Armee täglich bis zu 1000 FPV-Drohnen ein – kleine, ferngesteuerte, mit Kameras und Sprengladungen ausgestattete Flugobjekte. Tendenz steigend. Auch dank chinesischer Dual-Use-Güter, also Komponenten, die sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich eingesetzt werden können, kann Russland die Produktion dieser Angriffswaffen weiter ausbauen.
Immer schwieriger wird die Rekrutierung, die sich Moskau und die Regionen Milliarden kosten lassen. Das Problem ist nicht demografisch, die meist über 30-jährigen Provinzbewohner gehen dem Kreml so bald nicht aus. Die Bonuszahlungen für neue Soldaten, ihr Sold für den Fronteinsatz und die Entschädigungen für Hinterbliebene generieren allerdings immense Kosten.
Allein in diesem Jahr dürfte der russische Staat knapp 9,5 Prozent der Ausgaben des föderalen Haushalts oder zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür aufwenden, umgerechnet 44 Milliarden Euro.
Die Kosten sind vor allem für die regionalen Haushalte, die für die Rekrutierungsboni aufkommen müssen, eine große Belastung. Und sie wird in vielen Regionen weiter steigen, um das vom Kreml vorgegebene Soll von landesweit etwa 30.000 neuen Soldaten im Monat zu erfüllen.
Dennoch sollten der Westen und die Ukraine davon ausgehen, dass der Kreml den Abnutzungskrieg im Jahr 2026 mit bisheriger Intensität fortsetzen wird, weil er noch immer auf den Sieg und den Zusammenbruch des ukrainischen Militärs abzielt, wie Max Bergmann und Maria Snegovaya in einem Bericht für die US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies schreiben.
Wirtschaft
Im kommenden Jahr schlittert Russland wahrscheinlich in eine Rezession. Die immensen Ausgaben für Rüstung und Militär, die der russischen Ökonomie lange Zeit Auftrieb verliehen, gepaart mit einem großen Arbeitskräftemangel, bringen die Wirtschaft an Wachstumsgrenzen. Die Anti-Einwanderungs-Kampagne der Behörden schreckt potenzielle Arbeitsmigranten ab, der hohe Leitzins erschwert Unternehmensinvestitionen.
Das renommierte BOFIT-Institut der finnischen Zentralbank, das seit Jahrzehnten die russische Wirtschaft im Blick hat, geht in einem Bericht von einem Wirtschaftswachstum von maximal einem Prozent aus.
Die Wachstumsraten in Russland von mehr als vier Prozent in den Jahren 2023 und 2024 sind längst Geschichte. Selbst das Moskauer Zentrum für Strategische Forschung, eine staatsnahe Denkfabrik, geht in einem im November veröffentlichten Bericht davon aus, dass eine Rezession praktisch unumgänglich ist. Einheimische Experten wagen allerdings nicht, daraus politische Schlüsse zu ziehen.
Die staatliche Statistik-Behörde Rosstat berichtete, dass die Industrieproduktion insgesamt um 0,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen ist, während die Produktion im verarbeitenden Gewerbe um ein Prozent gesunken ist, was den ersten Rückgang in diesem Sektor seit Februar 2023 darstellt.
„Auf Grundlage der gesamtwirtschaftlichen Indikatoren läge es im besten Interesse Russlands, den Krieg jetzt zu beenden“, sagte Alexander Gabuev, Direktor des in Berlin ansässigen Russia Eurasia Center der US-Denkfabrik Carnegie, im Gespräch mit Bloomberg. „Um den Krieg beenden zu wollen, muss man jedoch den Rand der Klippe sehen. Russland ist noch nicht so weit.“
Die jüngsten Sanktionen gegen den Ölsektor zusammen mit den niedrigen Ölpreisen zeigen Wirkung, die Öl- und Gas-Einnahmen sind im vergangenen Jahr um 22 Prozent gefallen. Das Haushaltsdefizit liegt derzeit bei rund drei Prozent des BIP.
Das ist im europäischen Vergleich moderat, allerdings ist Russland der Zugang zu internationalen Finanzmärkten abgeschnitten. Zur Finanzierung bleibt nur der heimische Markt, etwa über neue Staatsanleihen in Yuan, die sich an russische Exporteure richten, die über große Bestände der chinesischen Währung verfügen.
Um den Krieg weiter zu finanzieren, greift der russische Staat zudem immer stärker seinen Bürgern in die Tasche. Die Mehrwertsteuer wird ab Januar von 20 auf 22 Prozent erhöht. Die Umsatzobergrenze der Mehrwertsteuer-Befreiung für kleine und mittlere Unternehmen schrumpft auf ein Sechstel der bisherigen. Schon ab einem Umsatz von umgerechnet 7000 Euro im Monat greift die Mehrwertsteuer-Pflicht – eine versteckte Steuererhöhung.
Mittelfristig werden diese Maßnahmen die Staatskasse füllen und helfen, das Haushaltsdefizit im Zaum zu halten. Langfristig hemmen sie aber das Wirtschaftswachstum. Darum geht es Wladimir Putin derzeit aber nicht: Er wettet die ökonomische Zukunft seines Landes darauf, dass er den Krieg länger durchhalten kann als die vom Westen unterstützte Ukraine.
Innenpolitik / Regimestabilität
Innenpolitisch wird es für Putin immer schwieriger, seinen Bürgern gegenüber den anhaltenden Krieg und die dafür nötigen Schritte zu begründen. Die wirtschaftlichen Maßnahmen schmerzen, aber der radikalste Schritt wäre die Rückkehr zur Zwangsmobilisierung.
Als der Kreml im September 2022 die erste Runde anordnete, verließen etwa eine halbe Million Russen das Land. Vor allem in den ethnischen Teilrepubliken des Nordkaukasus gab es Proteste. Schon damals war klar, dass die meisten Russen zwar bereit sind, den Krieg zu dulden, aber nicht zwangsrekrutiert und an die Front geschickt zu werden.
In Umfragen sprechen sich große Mehrheiten für ein Ende des Krieges aus. Aber solange er sie nicht direkt betrifft, akzeptieren sie den Status quo. Aus diesem Grund dürfte Putin alles daran setzen, um eine Neuauflage der Zwangsmobilisierung zu vermeiden. Ein schleichender Wohlstands- und Zukunftsverlust ist leichter hinzunehmen, als wenn der Ehemann oder der Sohn gegen seinen Willen an die Front geschickt wird.
Wie zur Zeit der Covid-Pandemie verschiebt Putin die Verantwortung für seine politischen Entscheidungen und die Folgen des Krieges zunehmend auf die Gouverneure sowie die Senatoren aus dem Oberhaus des russischen Parlaments.
Sie dienen ihm als Blitzableiter für den Groll der Bevölkerung, wenn der Kreml den einfachen Leuten immer neue Belastungen zumutet. Gouverneure erhöhen lokale Steuern und Abgaben, wo sie können, um ihre wegen der Bonuszahlungen an Rekruten angeschlagenen regionalen Haushalte aufzubessern.
Die Senatoren sind für größere Pläne da. Im Raum steht etwa die Abschaffung der erst 2019 eingeführten, steuerlich und vom Verwaltungsaufwand erleichterten Selbstständigkeit. Davon machen 13 Millionen Russen Gebrauch, das entspricht etwa einem Sechstel aller Berufstätigen; viele davon arbeiteten zuvor illegal.
Angedacht ist auch die Ausweitung der Abgabenpflicht für die Renten- und Arbeitslosenversicherung auf Millionen Russen, die offiziell keiner Arbeit nachgehen, aber keine Rente beziehen. Damit sollen auch die Schwarzarbeiter zum Zahlen gezwungen werden. Hinzu kommen Ideen zur Abschaffung des einst von Putin eingeführten „Mütterkapitals“ ab dem ersten Kind.
Falls diese Pläne umgesetzt werden, dann wahrscheinlich erst nach den Parlamentswahlen im September. Bis dahin wird der Kreml alles tun, damit die Stimmung im Volk trotz der Belastungen nicht umschlägt.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.