Was lesen Sie?
Gedichte von Rosanna Warren, die häufig von anderen Lebensformen wie Bären, Bäumen oder Wespen handeln und uns so daran erinnern, dass uns diese Welt nicht allein gehört. Sie ist eine ehemalige Kollegin von mir am Committee on Social Thought der University of Chicago, wo ich aktuell einen Kurs zu Naturkatastrophen gebe, in dem wir über das Buch „The Sixth Extinction“ der Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert sprechen, das sich mit dem Aussterben zahlloser Arten beschäftigt. Dabei diskutieren wir, inwieweit uns Naturkatastrophen dazu zwingen, fundamentale Kategorien wie die Zeitlichkeit von Ereignissen zu überdenken: Handelt es sich bei ihnen um punktuelle Ereignisse wie einen Nuklearkrieg, vor dem sich meine Generation so fürchtete? Oder können sie sich auch über Jahrtausende erstrecken wie der Klimawandel, den die meisten Kursteilnehmer als ihre größte Sorge beschreiben? Abends lese ich „Barchester Towers“, einen Roman des viktorianischen Autors Anthony Trollope von 1857. Er handelt von den Intrigen, die sich in einer englischen Kleinstadt um die Nachfolge eines Bischofs entspinnen. Ich lese das ganz eskapistisch zur Entspannung, denn Trollope glaubt nicht daran, seine Leser über den weiteren Fortgang der Handlung auf die Folter zu spannen: „Du magst dich darum sorgen“, heißt es einmal, „dass unsere Heldin den falschen Mann heiratet. Lass mich dir versichern, dass sie das nicht tun wird.“ Es ist also die ideale Lektüre für alle, die etwas ohne den leisesten Anflug von Furcht lesen wollen, auf ein Happy End bestehen und verwickelte Handlungsstränge mögen.
Welches Buch haben Sie im Bücherschrank, das Sie bestimmt nicht lesen werden?
Mir ist kürzlich unaufgefordert das Buch „Deep Utopia“ von einem Autor namens Nick Bostrom zugesandt worden. Laut dem Klappentext – und mehr habe ich nicht gelesen – ist die These, dass der Umbruch durch KI menschliche Arbeit obsolet machen und die menschliche Natur dadurch beliebig formbar wird. Was also werden wir in so einer Welt den ganzen Tag machen? Ich vermute, dass dieses Buch in sechs Monaten obsolet sein wird und werde mir darum nicht die Mühe machen, es zu lesen, ganz so wie all die anderen Titel, die gegenwärtig aufgrund von KI entweder Utopien oder Dystopien vorhersagen. Mich erinnert diese Flut von Büchern an die Aussage von John Maynard Keynes, der sich sicher war, dass seine Kinder und Enkelkinder aufgrund des technischen Fortschritts immens viel Freizeit haben würden. Soweit ich sehen kann wird uns durch neue Technologien jedoch oft eher noch Zeit genommen – man denke etwa an Emails.
Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston war bis 2019 Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und lehrt als Gastprofessorin im Committee on Social Thought der University of Chicago.
In der Sonntagszeitung vom 4. Mai finden sich zusätzlich die Antworten von Lorraine Daston auf die Fragen, was sie sieht, was sie hört – und wann sie zuletzt ihre Meinung geändert hat