Mit drei Buchtiteln hat Henner Kotte die Kulturstadt Chemnitz für interessierte Leser/-innen etwas sichtbarer gemacht. Erlebt hat er es nicht mehr, dass alle drei Titel aus der Druckerei kamen. Der ungewöhnlichste darunter sind die „Chemnitzer Köpfe auf der Bühne und im Film“. Wer denkt schon an Schauspieler, Sänger und Moderatorinnen, wenn er an Chemnitz denkt und nicht gerade wieder der Regionalzug ausfällt? Es liegt nicht nahe. Stimmt. Denn Karriere machten sie meist anderswo.
So wie Richard Tauber, der berühmteste deutsche Opernsänger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Name, der heute noch klingt, obwohl ihn die NS-Funktionäre aus dem Land ekelten, weil er jüdische Vorfahren hatte. Man darf immer wieder an Bernt Engelmanns Buch „Deutschland ohne Juden“ erinnern, in dem der Journalist 1970 skizzierte, welch einen Verlust an klugen Köpfen Deutschland durch die Vertreibung und Vernichtung der Juden erlitt.
Was auch wieder falsch klingt, denn alle diese Menschen waren längst integriert und assimiliert. Nur nicht in den Köpfen der kunst- und kulturfeindlichen NS-Funktionäre, die den Deutschen ihr Bild vom homogenen Volk eintrichterten. Ein Topos, der von rechtsextremen Politikern heute immer noch reaktivierbar ist.
Tauber starb während des Zweiten Weltkrieges in London und bekam – wie Kotte zitiert – „die größte Gedenkfeier, die je für einen Sänger veranstaltet worden war“. Seine Karriere aber begann er just in Chemnitz – als jugendlicher Held. Und seine Stimme bezauberte sofort Intendanten, Kritiker und Publikum.
Berliner Luft und ein kleines bisschen Liebe
Aus Chemnitz stammte auch einer der berühmtesten Namenlosen im Kaiserreich, nämlich der Autor jener zu Gassenhauern gewordenen Lieder aus Paul Linkckes berühmten Operetten, die das Publikum in Berlin in Scharen ins Theater zogen: Heinrich Bolten-Baeckers. Von ihm stammen sowohl „Das ist die Berliner Luft“ als auch „Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe, Liebe“ und „Schlösser, die im Monde liegen“.
Eigentlich war er Schauspieler, kam so wohl auch nach Berlin. Aber ab 1906 wurde er auch zu einem der Pioniere des deutschen Films. Man merkt: Es lohnt sich, den Spuren zu folgen, die sich im Schatten der noch Berühmteren auftun. Auch bis zum Schluss, wie es Henner Kotte tut, der durchaus trocken anmerkt, wie sich auch Bolten-Baeckers ganz am Ende den Nazis andiente.
Versteht einer die Menschen? Oder ist dieses Versagen vor den Mächtigen nur zu typisch?
Das ist Thema für andere Bücher. Was die „Chemnitzer Köpfe“ versuchen, ist schlicht ein Aufzeigen, was für durchaus bemerkenswerte Personen aus der Stadt an der Chemnitz kamen. Charlotte Hagenbruch zum Beispiel, eine der frühesten Frauen, die im deutschen Spielfilm berühmt wurden, oder Bruni Löbel, die in Chemnitz-Altendorf geboren wurde und regelrecht von Zuhause floh, um Schauspielerin werden zu können.
Henner Kotte beleuchtet dabei vor allem ihre Rollen in der Wirtschaftswunderzeit, als sie als kesse Mädchen in zahlreichen Filmen wie „Vater braucht eine Frau“ oder „Der Pauker“ spielte, bevor sie zur unverwechselbaren TV-Serien-Oma wurde.
Sie bewegt sich doch!
Aber aus Chemnitz kam auch eine der ersten Fernsehansagerinnen der DDR: Gerlint Ahnert. Sie wurde geradezu zum Fernseh-Gesicht des frühen DDR-Fernsehens, spielte auch in mehreren DEFA-Filmen und ging später in den Westen, um dort fortan als Rundfunk- und Synchronsprecherin zu arbeiten. Denn sie war nicht nur hübsch, sie hatte auch eine Stimme. Was nicht jeder von sich sagen kann.
Aber Kotte schaut auch rechts und links des Weges, weshalb auch der aus Chemnitz stammende Architekt Max Littmann ins Bild kommt, der in München bis heute unverkennbare Platzsituationen schuf. Und in der Chemnitzer Stadthalle weiß er die von Fritz Cremer gestaltete Plastik von Brechts Galileo Galilei.
Eine Plastik, die schon 1974 die Besucher der Veranstaltungen in der Stadthalle einlud, darüber nachzudenken, wie man als Mensch eigentlich damit umgeht, wenn man die Wahrheit kennt, die Mächtigen einem aber mit schlimmsten Strafen bedrohen, wenn man die Wahrheit verteidigt. Galilei hat ja bekanntlich abgeschworen. Aber übrig geblieben ist bis heute sein trotziger Ausspruch „Sie bewegt sich doch!“, von dem freilich niemand weiß, wo und wann er ihn tatsächlich getan hat.
Kotte bringt dabei den durchaus kritischen Bildhauer Cremer ins Bild, der dieses Auftragswerk für Chemnitz schuf, der von den Betrachtern seiner Skulpturen immer auch die Fähigkeit erwartete, über das Kunstwerk hinauszudenken. Das gilt bis heute. Nicht alles ist Show. Und nicht alles ist darauf angelegt, die Leute einfach nur zu bespaßen.
Triumphe und Weihnachtslieder
Und manchmal geht es einfach um Triumph und Perfektion. Weshalb Jutta Müller in diesem Bändchen auch nicht fehlt, die erfolgreichste Eiskunstlauftrainerin der Welt, deren Schützlinge Gaby Seyfert, Annett Pötzsch, Katharina Witt und Jan Hoffmann bei internationalen Wettkämpfen lauter Edelmetall gewannen.
Nicht nur die Chemnitzer taten sich lange schwer mit der strengen Trainerin. Aber mit ihrer Haltung, dass jeder Sieg hart erarbeitet werden muss, hatte sie wohl einfach recht. Wer das abstreitet, versteht die Funktion all der gnadenlosen Wettbewerbe nicht, in denen Sport heute als Show inszeniert wird. Nur stecken hinter der Show fast immer Schweiß und Tränen.
Was bleibt? Erzgebirgische Weihnachten mit Marianne Martin, die jahrzehntelang die Sendung „So klingt’s bei uns im Arzgebirg“ moderierte. Denn Chemnitz ist ja irgendwie das Tor zum Erzgebirge. Und das Erzgebirge ist irgendwie das Weihnachtsland Deutschlands.
Und die Leute setzen sich tatsächlich zu Weihnachten hin und lassen sich mit erzgebirgischer Musik ins Land der Träume und Gänsebraten entführen. Das ist die Zeit, wo die Deutschen alle mal wieder romantisch werden und glauben, man müsse nur schöne Weihnachtslieder singen, dann gäbe es Friede auf Erden.
Marianne Martin stand 71 Jahre lang mit erzgebirgischer Mundart auf der Bühne und vor der Kamera. Inzwischen ist sie in Rente. Die Sendung heißt jetzt anders.
Und jeder hat die Wahl, wenn er nach Chemnitz fährt, ob er sich nun erzgebirgische Weihnachtslieder auf die Kopfhörer legt oder eine schöne alte Aufnahme mit der Stimme von Richard Tauber. Eine Stadt ist immer größer und kleiner zugleich, als sie von außen aussieht, und spätestens beim Blick in die Stadthalle darf man an Brecht denken und die nur zu berechtigte Frage, wie standhaft man sein kann in einer Welt, in der ein wahres Wort die Mächtigen auf den Plan ruft.
Henner Kotte „Chemnitzer Köpfe auf der Bühne und im Film“, Tauchaer Verlag, Leipzig 2025, 12 Euro
Henner Kotte Chemnitzer Köpfe auf der Bühne und im Film Tauchaer Verlag, Leipzig 2025, 12 Euro.