Erzählhaltung frei nach Goethes „Dass ich eins und doppelt bin…“

Von Petra Kammann

In diesem Jahr fanden Lesungen des wiederaufgelegten Romans „Nachbeben“ aus 2004 von Dirk Kurbjuweit mit über 70 Veranstaltungen in Frankfurt und Umgebung statt, so zum Beispiel im Vordertaunus, wo Teile der Erzählung spielen wie am Seismographen der Erdbebenwarte auf dem Kleinen Feldberg, oder in Kronberg, wo einer der Protagonisten, der Banker Lorenz, der eine Karriere bei der Bundesbank gemacht hat, mit seiner Familie lebt. In historischen Rückblenden werden mit der Einführung des Euro Schicksale entschieden … In Königstein las und diskutierte der Autor der literarischen Chronik der 90er Jahre in der St. Angela-Schule.

Dirk Kurbjuweit in der Aula der St. Angela-Schule in Königstein, Foto: Petra Kammann

Bei den Uschis, wie die Schülerinnen der in Königsteiner Ursulinenschule liebevoll genannt werden, zeugen etliche Banner an Hauswänden und Treppen  davon, dass hier mitsamt der ganzen Familie und allen Freundinnen gerade dem erfolgreich abgeschlossenen Abitur entgegengefiebert wird. In der Aula ist eine Lesung mit dem Autor des diesjährigen Lesefestivals „Frankfurt liest ein Buch“ Dirk Kurbjuweit angesagt. Der kommt gerade mit einer kleinen Gruppe unter der Leitung der Festival-Vorstandsvorsitzenden Dr. Sabine Baumann vom Kleinen Feldberg zurück. Dort haben sie gemeinsam den einstigen Seismographen der Erdbebenwarte besucht. Eine für ihn bewegende Begegnung nach Jahren, bekennt Kurbjuweit, der viele Tage dort in seiner Kindheit verbracht hat, weil seine Eltern seinerzeit mit dem Ehepaar des dortigen Wärterhauses befreundet waren.

Eines der vielen Abi-Banner an der St. Angela-Schule in Königstein, Foto: Petra Kammann

Für den heutigen Spiegel-Chefredakteur, der sich in seinem Journalistenalltag vor allem mit Faktenchecks befassen muss, ist der Kleine Feldberg ein nach wie vor „verwunschener, verzauberter Ort in den Wolken“, der den Autor Kurbjuweit immer wieder faszinierte. 825 Meter über dem Meeresspiegel konnten hier mittels eines Maika-Seismographen aus dem Jahr 1911 weltweit 150 Erdbeben ausgemacht werden. 120 Tage im Jahr lag er unter Nebel, was sich auch auf das Gemüt der Menschen auswirke. Diesem Ort mit den seismopragohischen Einrichtungen jedenfalls verdankt der Roman nicht zuletzt den Titel „Nachbeben“, der durchaus zweideutig und symbolisch zu verstehen ist.

Der Seismograph fängt im Roman die Wellen und Schwingungen der großen Welt ebenso ein wie auch die Gefühlslagen und (zwischen)menschlichen Spannungen des darin vorkommenden Personals, die Fallstricke, Vertuschungen und Halbwahrheiten inklusive wie auch emotionale, einem Erdbeben vergleichbare Erschütterungen. Um solche Parallelzustände, die eher den Blick ins Innere der einzelnen Personen offenbaren, geht es in dem teils lakonisch, teils auch komisch erzählten Buch immer wieder.

Der Autor beschreibt einerseits den sympathischen Wärter Luis, der leidenschaftlich Erdbeben erforscht und die Daten täglich auswertet, dessen einzige Nachbarn – das Verwalterehepaar Konrad und Charlotte – einen Sohn Lorenz haben. Den verbindet eine tiefe Freundschaft mit dem alten Luis. Der ist inzwischen aber auch ein aufstrebender Banker in Frankfurt. Als nach einem Beben im Rheinland eine verängstigte junge Frau aus Köln in der Station anruft, weil sie glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, tröstet Lorenz sie zunächst geduldig, versucht, die aufgedrehte Frau am Telefon zu beruhigen, um gleich darauf zu ihr nach Köln zu eilen. Denn er hat sich unmittelbar in ihre Stimme verliebt. Selma wird später auch seine Frau.

Gabriele Fachinger, Bibliothekarin & Literaturpädagogin der St. Angela-Schule, im Gespräch mit dem Autor, Foto: Petra Kammann

War es sein „Helfersyndrom“, das ihn zu dieser Spontanaktion bewegt habe?  Er sei so spontan wie auch konservativ zögerlich zugleich, bemerkt der Autor auf Nachfrage von Gabriele Fachinger, der die Veranstaltung moderierenden Bibliothekarin & Literaturpädagogin der St. Angela-Schule.

Packend liest er die Szene, als sich die junge Familie in Kronberg, dem Speckgürtel Frankfurts, ein Wohnhaus kaufen will, das sie sich eigentlich gar nicht leisten können und dann noch den armen Handwerker im Preis drücken, der verkaufen muss. Sie feilschen und gehen einen unfairen Handel ein. Man spürt förmlich das sich damit anbahnende künftige Unheil.

Da geht es dem Schriftsteller eben auch um das Ausschmücken desssen, was ihn im Journalistenalltag des Faktenvermittelns wirklich interessiert: der Mensch in all seinen Ups und Downs, in der Verführbarkeit wie im Verhalten in der äußersten Notlage. Für solche Themen und Figuren entwickelt Kurbjuweit nicht zuletzt in den Dialogen auch einen entsprechenden Sound, der sich gewissermaßen beim Schreiben verselbständige und einen eigenen Raum schaffe.

Natürlich geht es in den Diskussionen um den ausgebildeten Volkswirtschaftler und Spiegel-Journalisten Kurbjuweit auch um die Finanzthemen der damaligen Zeit. Immerhin hat der Protagonist Lorenz Karriere bei der Bundesbank gemacht. Und nun ist sein Abstieg verschiedener Vertuschungen und Unangepasstheit wegen vorprogrammiert. Bei der Einführung des Euro hatte sich ihm die Frage gestellt, ob der Wechselkurs 1:1 eine absolute Notwendigkeit war, um so etwas wie ein geeintes Europa zu schaffen (das nun so gar nicht mehr geeint zu sein scheint)? Hätte man den Neid so mancher Nachbarstaaten über die harte Währung der Deutschen Mark nicht anders brechen können, indem man vorab erst einmal eine politische Union geschafft hätte? Lorenz aber wird dazu nicht mehr gefragt. Die Frage bleibt nach nunmehr 20 Jahren nach dem ersten Erscheinen des Romans 2004 durchaus aktuell.

Dirk Kurbjuweit diskutiert die hellen und dunklen Seiten der Erzählfiguren, Foto: Petra Kammann

Bleibt das Frauenbild, das Kurbjuweit vermittelt, das auch die anwesenden Schülerinnen bewogen hat, sich zu Wort zu melden. Ob der Autor seiner im Roman vorkommenden Frau nicht eigentlich ganz schön viel zumute? Der Autor kontert, dass er die Atmosphäre der 90er Jahre widersgespiegelt habe. An dem Punkte wird deutlich, was sich in den vergangenen Jahren getan hat, dass Frauen wesentlich selbstbewusster geworden sind.

Aber der Autor wird auch mit der Frage konfrontiert, ob er das Recht habe, das Leben anderer zum Vorbild zu nehmen. So gibt es etwa die Beschreibung einer Villa in Königstein – oberflächlich betrachtet mit Biedermeieratmosphäre – , wohin der Bundesbanker Lorenz als Verlierer vom Davos-Gipfel zurückkehrt und – melancholisch gestimmt – den herrlichsten Ausblick auf den Taunus genießt.

Prognosen auf den Bannern der Abiturientinnen beim Aufgang zur Aula, Foto: Petra Kammann

Verwirke man als Autor nicht eigentlich das Recht am eigenen Bild, das Recht am eigenen Leben des Romanpersonals? Wie lasse sich dieses Recht eigentlich definieren? Der Blick von außen sei immer ein anderer, so die Meinung des Autors. Das führe bisweilen auch zu Konflikten in der eigenen Familie, die sich in manchen Verhaltensweisen wiedererkenne. Aber mit dem anderen, dem distanzierteren Blick schaffe der Schriftsteller, der eine Art zweites paralles Leben führe, auch jeweils neue Perspektiven, in dem er den Figuren der Geschichte und deren innerer Logik folge. Er wolle niemanden ideologisch missionieren, sondern etwas erzählen, in dem sich die Menschen wiedererkennen.

Bisher habe sich noch niemand bei ihm beschwert. So erinnert sich Kurbjuweit an die Lesung nach Erscheinen des Buches in Kronberg, wohin auch die Hausmeisterfamilie, die bis 1999 auf dem Kleinen Feldberg gelebt habe, gekommen sei und begeistert zugestimmt habe.

Weitere Infos unter:

www.frankfurt-liest-ein-buch.de

2004 erschien der Roman im Schweizer Verlag Nagel & Kimche. Über zwanzig Jahre später wurde das Buch nun neu im Penguin Verlag aufgelegt, der heute zur Verlagsgruppe RandomHouse gehört. 

Dirk Kurbjuweit: Nachbeben
Penguin Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag
224 Seiten
ISBN 978-3-328-60408-2, € 24  

 

Zum Autor: Dirk Kurbjuweit 

Dirk Kurbjuweit wurde 1962 in Wiesbaden geboren und verbrachte Teile seiner Kindheit im Vordertaunus auf dem Kleinen Feldberg. Als Zeit– und Spiegel-Reporter einer breiten Leserschaft bekannt, überzeugte er schon früh auch als Erzähler. Nach seinem Debüt Die Einsamkeit der Krokodile (1995) wurden besonders die Novelle Zweier ohne (2001) und der Roman Angst (2013) von der Kritik gefeiert. Zuletzt sorgten der Roman Haarmann (2020) und die Erzählung Der Ausflug (2022) für ein breites Presse-Echo. Etliche seiner literarischen Erfolge dienten überdies als Vorlage für Verfilmungen, Theaterstücke und Hörspiele. 

Dieser Eintrag wurde verfasst

am 4. Mai 2025 um 12:21 und befindet sich in der Kategorie Autoren, Autorinnen und Autoren, Buch und Literatur, Kultur Frankfurt, Kultur regional / Rhein Main, Kultur und Gesellschaft.
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