Am 9. Mai wird am größten sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow der „Tag des Sieges“ gefeiert. Russlands Botschafter ist ebenso dabei wie DDR-Nostalgiker und Stalinisten. Wer besucht diese Veranstaltung?
Schon am Eingang des Sowjetischen Ehrenmals im Berliner Ortsteil Treptow macht die Berliner Polizei klar, was nicht erwünscht ist: Rucksäcke werden auf russische Fahnen kontrolliert, eine Frau muss das schwarz-orange Sankt-Georgs-Band ablegen. Ein Motorradfahrer hat den Aufnäher einer sowjetischen Fahne auf seiner Jacke überklebt.
Am 8. und 9. Mai finden sich in Berlin jedes Jahr Menschen vor den drei Ehrenmalen der Roten Armee ein, um dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Opfer zu gedenken. Wie in den Vorjahren hat die Polizei eine Allgemeinverfügung erlassen und das Zeigen russischer und sowjetischer Fahnen und Insignien verboten. Das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs wird inzwischen von einem weiteren Krieg überlagert – dem in der Ukraine. Ein Krieg, der aber an diesem Freitag nur wenige Besucher interessiert.
Auf dem Gelände hat die kommunistische Partei DKP eine Bühne aufgebaut. Dort werden sowjetische Lieder rezitiert. An einem weiteren Stand prangt die DDR-Fahne, auch die palästinensische ist vereinzelt zu sehen. Ein Mann zeigt stolz ein Banner mit einem Portrait von Josef Stalin.
Männer und Frauen strömen mit roten Rosen oder Nelken auf das Gelände, das in einem ruhigen Waldstück liegt. Das Sowjetischen Ehrenmal in Treptow ist das größte für gefallene Soldaten der Roten Armee in Deutschland, über 7000 von ihnen liegen in den Grabfeldern am Rande der Anlage. Nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer, Belarussen, Kasachen, Tadschiken und Angehöriger weiterer Völker der Sowjetunion.
Viele Besucher haben einen familiären Bezug zur ehemaligen Sowjetunion. Sie kamen als Spätaussiedler oder als Zuwanderer nach Deutschland. Andere stammen aus der ehemaligen DDR oder gehören zum Lager der Nato-Gegner und Friedensdemonstranten, die auch zu anderen Anlässen demonstrieren. „Keine neuen US-Raketen“, steht auf einem Aufkleber der „Freidenker“.
Almira Zayzeva fällt sofort auf, als sie einigen Stufen im Ehrenmal herabgeht. Die 37-Jährige trägt Kleidung in den Farben der russischen Trikolore: weiße Bluse, blauer Blazer, roter Rock, rote Gerbera in der Hand. Die Polizisten hätten sie erst nach einer Diskussion eingelassen, weil Kleidung in diesen Farben nicht von der Verordnung erfasst sei, sagt Zayzeva. Sie kam vor zwölf Jahren zum Studieren nach Berlin, ist inzwischen eingebürgert.
„Ich verstehe nicht, warum die russische Fahne verboten ist, aber die ukrainische nicht“, sagt sie. Dass die russische Trikolore nicht gezeigt werden darf, weil damit auch der Angriffskrieg gebilligt werden könnte, kann sie nicht nachvollziehen. „Die Geschichte ist länger“, sagt sie. Es ist eine Argumentation, die an diesem Tag häufig vorgetragen wird: Die Maidan-Bewegung 2014? Ein Putsch. Der Überfall auf den Donbass? Eine Intervention, um die russische Minderheit zu schützen.
„Der Krieg hat unsere Familie geprägt“
Frank Tietsche ist mit mehreren Freunden aus Oranienburg zum Ehrenmal gekommen. Sie haben zwei Kränze mitgebracht, die sie niederlegen wollen. Dieser Tag sei eigentlich schon immer ein Feiertag für sie gewesen, sagt der 70-Jährige. Und erzählt: „Mein Vater hatte als Kind auf der Flucht aus Königsberg seine Familie verloren. Er ist in einem Waisenheim in der DDR aufgewachsen. Der Krieg hat unsere Familie geprägt.“
Tietsche ist BSW-Mitglied und einer derjenigen, die dem Thema Ukraine-Krieg nicht sofort ausweichen. „Der Krieg ist furchtbar“, sagt er. „Ich stehe dafür ein, dass er schnell beendet wird – mit diplomatischen Mitteln.“ Auch Tietsche verweist auf die „Vorgeschichte“ des Ukraine-Krieges, die Erweiterung der Nato gen Osten.
Erika Zeun, eine kleine Frau aus Annaberg im Erzgebirge, hat eine Gitarre dabei. Als sie „Katjuscha“ anstimmt, singen Umstehende spontan mit. „Katjuscha“ ist ein Lied über eine Frau, die ihren in den Krieg gezogenen Mann vermisst. Ein Liebeslied, aber auch ein Kriegslied. „Ich mache das für die Russen, weil die uns befreit haben“, sagt die 75-Jährige. „Wenn die Russen nicht gekommen wären, wären wir verhungert, hat mein Mutter immer gesagt.“
Im Vorfeld war befürchtet worden, dass auch Motorrad-Gruppe „Nachtwölfe“, Unterstützer von Kremlchef Wladimir Putin, zum Jahrestag am Ehrenmal posieren könnten. Vertreter der „Nachtwölfe“ aus Russland dürfen nicht in die EU einreisen, aber bereits Ende April tauchten Anhänger von Chaptern aus der Schweiz und vom deutschen Motorradclub „Nachtvalkyrien“ beim Weltkriegsgedenken in Torgau auf.
In Treptow untersagt die Polizei den Bikern den Zugang in ihren Kutten, lässt die Männer und Frauen nur in Kleingruppen auf die Anlage.
Botschafter und Gesandter aus Russland und Belarus zelebrieren 9. Mai im Treptower Park
Andere genießen freien Zugang. An der Skulptur „Mutter Heimat“, eine Frau, die um ihre Söhne trauert, sammeln sich mehrere Herren im Anzug. Es sind die Botschafter aus Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Armenien, die den Gesandten aus Belarus treffen. Andrei Shuplyak war – anders als die Botschafter der anderen Ex-Sowjetrepubliken – beim offiziellen Gedenken am Donnerstag im Bundestag nicht erwünscht.
Das Auswärtige Amt hatte in einer Empfehlung dazu geraten, dass Vertreter Russlands und Belarus nicht an offiziellen Gedenkveranstaltungen teilnehmen. Begründet wurde das mit der Befürchtung, dass Russland die Gedenkveranstaltungen „instrumentalisieren und mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine missbräuchlich in Verbindung bringen“ könnte. Doch bei dem Treffen am sowjetischen Ehrenmal handelt es sich nicht um eine offizielle Gedenkveranstaltung.
Das Hausrecht durchzusetzen und die Vertreter vom Gelände zu verweisen, hatte der Bezirk Treptow-Köpenick im Vorfeld abgelehnt. Fragen von WELT wollen die Botschafter grundsätzlich beantworten, nicht aber zu dieser de facto Ausladung durch das Auswärtige Amt oder zum Krieg in der Ukraine.
Als Russlands Botschafter Sergej Netschajew mit seiner Entourage an der „Mutter Heimat“ auftaucht, reihen sich die Vertreter der weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken ein in eine Prozession aus Diplomaten, Militärangehörigen, Leibwächtern und orthodoxen Priestern. Viele tragen das Sankt-Georgs-Band demonstrativ am Revers, Botschaftsangehörige sind von der Allgemeinverfügung ausgenommen.
Der Tross stoppt an der überlebensgroßen Statue eines sowjetischen Soldaten mit einem Kind und einem Schwert im Zentrum des Ehrenmals. Die Priester beten auf russisch. „Christus ist auferstanden“. Die Menge antwortet: „Er ist auferstanden“. Dann singt eine Gruppe Männer aus Kirgistan. Hinter ihnen halten Teilnehmer samtrote Wimpel, auf denen in goldener Schrift die Namen mehrerer Großverbände der Roten Armee stehen: „1. Ukrainische Front“, „2. Belarussische Front“.
Anschließend legen die Botschafter Kränze nieder. Links vor dem Gesteck der Russischen Föderation finden sich später Blumen auf dem Boden mit einer Schleife. Auf der steht: „Danke Euch, Befreier – Gegen Krieg und Faschismus. Die Linke im Bundestag“.
Am Rand des Ehrenmals stehen einige Demonstranten mit ukrainischen Fahnen in einem Halbrund und beobachten das postsowjetisch-orthodoxe Gebet. Patrick aus Köln ist ein „NAFO“-Fella, ein Unterstützer der Ukraine, der vor allem im Internet gegen russische Kriegspropaganda arbeitet. Ein Kommunikationsteam der Berliner Polizei beschwichtigt zwei Männer, die aneinandergeraten sind und diskutieren. Ein Russe ruft ihnen zu: „Ruhm an Russland“, ein Ukrainer entgegnet „Ruhm der Ukraine“.
„Sie führen heute genau so einen Krieg“
Liodmyla Selke stammt aus der Ukraine, lebt seit 20 Jahren in Deutschland. „Einer meiner Großväter hat 1945 in Berlin gekämpft“, sagt Liodmyla und deutet auf den Tross vor der Statue. „Sie denken, sie ehren das Kriegsende von damals. Aber sie führen heute genau so einen Krieg.“ Ihre Mutter lebt wie weitere Familienmitglieder noch in der Ukraine, mit zwei Tanten in Russland habe sie sich nach 2022 zerstritten. „Es ist traurig, dass dieser Krieg unsere Familie entzweit.“
Russen, die sich offen gegen Wladimir Putin und seinen Krieg aussprechen, sind an diesem Tag fast nicht anzutreffen. Natalia Ivanova, die 1992 für einen Studienaustausch nach Deutschland kam und geblieben ist, ist eine von ihnen. Vor drei Jahren gründete sie den Verein „Demokrati-JA“. Gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland inzwischen verboten ist, versucht Ivanova mit einigen Mitstreitern am Rande des Ehrenmals einen Gegenpol zu bilden, ein Gedenken im Zeichen der Unterstützung der Ukraine. Ihre Fahne ist die weiß-blau-weiße der russischen Demokratiebewegung.
„Unser Land hat einen Krieg entfesselt und damit müssen wir uns auseinandersetzen“, sagt Ivanova. „Viele Besucher heute reden von Krieg, aber benennen den Aggressor nicht.“ Deutschland habe die Nazi-Zeit und die Kriegsverbrechen aufgearbeitet, sagt Ivanova, die Sowjetunion aber nicht. Auf einer Infotafel informiert ihr Verein über sowjetische und russische Kriegsverbrechen. Viele Gespräche darüber liefen ins Nichts, sagt Ivanova. Einige hörten immerhin zu, andere suchten nur die Konfrontation.
Ivanova sagt, sie habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. „Was Russland seit 2014 macht, hat mich nicht in Ruhe gelassen“. Eine Haltung, die nur wenige an diesem Freitag teilen.