Die umstrittene Wahlkampfforderung, alle Migranten an deutschen Grenzen zurückzuweisen, setzte die Union um. Nun bestätigt ein Gericht die Bedenken der Experten: Die Maßnahme verstößt gegen EU-Recht, eine Notlage ist nicht ersichtlich.
Es war die wohl umstrittenste Wahlkampfforderung der Union: Um die sogenannte irreguläre Migration einzudämmen, sollen Migranten an den deutschen Grenzen zurückgewiesen werden. Das sollte explizit auch Asylsuchende treffen, weil Deutschland für deren Asylanträge nach dem europäischen Dublin-System in aller Regel nicht zuständig sei. Obwohl viele Experten darin einen Verstoß gegen EU-Recht sahen, setzte die Union das Vorhaben gegen abweichende Stimmen aus den Reihen ihres Koalitionspartners SPD durch.
Im Mai dann setzte der neue Bundesinnenminster Alexander Dobrindt (CSU) die Zurückweisungen per Erlass in Gang. Er begründete dies primär mit dem deutschen Recht, welches Zurückweisungen von Personen, die aus sicheren Drittstaaten nach Deutschland eingereist seien, in § 18 Asylgesetz angeblich erlaube. Am Montag nun bestätigte das Verwaltungsgericht (VG) Berlin in drei Eilentscheidungen die Warnungen der Kritiker: Wer bei einer Grenzkontrolle auf deutschem Staatsgebiet ein Asylgesuch äußert, dürfe nicht ohne Durchführung des Dublin-Verfahrens zurückgewiesen werden. Der darin liegende Verstoß gegen die europäischen Dublin-Regeln werde auch nicht durch eine Notlage gerechtfertigt.
Die 6. Kammer gab damit dem Antrag dreier von ProAsyl unterstützten Somalier:innen im Wesentlichen statt. Sie waren am 9. Mai mit dem Zug von Polen nach Deutschland eingereist. Am Bahnhof Frankfurt (Oder) gerieten sie in eine Kontrolle der Bundespolizei, äußerten ihr Asylgesuch – und wurden doch koalitionsvertragsgetreu unter Hinweis auf die Einreise aus einem sicheren Drittstaat nach Polen zurückgewiesen.
Dublin-Verfahren missachtet
Das VG Berlin stützt seine Entscheidung auf die Regeln der europäischen Dublin-III-Verordnung. Die sieht zwar einerseits vor, dass für das Asylverfahren derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem die geflüchtete Person zuerst die EU betreten hat – was aufgrund der geografischen Lage so gut wie nie Deutschland sein kann. Andererseits aber garantiert die Verordnung jedem, der ein Asylgesuch auf dem Gebiet oder „an der Grenze“ eines Staates äußert, dass dieser Staat die Zuständigkeit prüft und feststellt.
Wer aus Polen nach Deutschland einreist, hat also keinen Anspruch auf ein vollständiges Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wohl aber darauf, dass das BAMF prüft, welcher Staat zuständig ist. Hintergrund ist, dass die Zuständigkeitsfeststellung im Einzelfall kompliziert sein kann. Aufgrund von Ausnahmeregelungen in der Dublin-Verordnung, etwa wenn sich bereits Familienangehörige der antragstellenden Person rechtmäßig in Deutschland befinden, kann Deutschland dennoch zuständig sein.
Diese Verfahrensgarantie sei durch die Bundespolizei im Fall der drei Somalier:innen verletzt worden, entschied das Gericht. Die drei hätten ein Asylgesuch geäußert, deshalb hätte ihnen der Grenzübertritt erlaubt und das Dublin-Verfahren in Deutschland durchgeführt werden müssen.
VG zur Notlage: Gefahr nicht hinreichend dargelegt
Die 6. Kammer des VG ging auch auf die von der Bundesregierung eher hilfsweise vorgebrachte sogenannte Notlage ein. Dieses Argument spielt auf die Ausnahmeregelung des Art. 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) an. Der erlaubt die Abweichung von EU-Sekundärrecht – also Richtlinien und Verordnungen wie Dublin III –, wenn dies der „Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ dient.
Auf diese Regelung im EU-Primärrecht könne sich die Bundesrepublik jedoch nicht berufen, so das VG. Schon die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung habe das Bundesinnenministerium nicht hinreichend dargelegt.
Anspruch auf Dublin-Verfahren – aber nicht auf Einreise
Mit den unanfechtbaren Beschlüssen entsprach das Gericht weitgehend den Ansinnen der Antragsteller, die Durchführung eines Dublin-Verfahrens durch das BAMF zu erzwingen. Auch wenn es sich nur um Eilentscheidungen handelt, äußerte sich das Gericht in den LTO vorliegenden Entscheidungsgründen deutlich zur zentralen Grundfrage: Die Zurückweisungen an der Grenze und ihre Rückführung nach Polen werden „sich in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen“, heißt es dort.
Zum anderen entsprach das Gericht dem Begehren von ProAsyl, die Unionsrechtwidrigkeit der Zurückweisungen von Asylsuchenden grundsätzlich festzustellen. Zwar hat die 6. Kammer formal nur über drei Einzelfälle entschieden. Jedoch dürften die Ausführungen zur Begründung allgemeingültig sein: Die Zurückweisung von Personen, die an der Grenze ein Asylgesuch äußern, verletzt die Garantie, dass in diesem Staat (wenigstens) ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden muss.
Was den genauen Ort dieses angeht, wies das VG Berlin die Anträge der drei Somalier:innen aber teilweise zurück. Die Bundesrepublik wird im Wege der einstweiligen Anordnung nur verpflichtet, die Antragsteller „in den Zuständigkeitsbereich“ der Bundespolizei zu lassen, um das Dublin-Verfahren einzuleiten. Den weitergehenden Anordnungsantrag, die drei Personen nach Deutschland einreisen zu lassen, lehnt das Gericht ab. Ein Anspruch darauf bestehe nicht. Denn nach der Dublin-Verordnung sei es möglich, das Dublin-Verfahren an der Grenze oder im grenznahen Bereich durchzuführen, ohne dass damit zwangsläufig eine Einreisegestattung verbunden sein müsse.
GdP sieht sich bestätigt
Angesichts der Gerichtsentscheidungen fordern die Grünen Dobrindt auf, gegen die Zurückweisung Asylsuchender auf deutschem Gebiet „unverzüglich seine Anordnung zurückzuziehen“. Das sei „eine harte Niederlage für die Bundesregierung und sollte eine Mahnung sein, sich künftig an Recht und Gesetz zu halten und die eigenen Kompetenzen nicht wissentlich für populistische Zwecke zu überschreiten“, sagte die Parlamentsgeschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, der Rheinischen Post. Bundeskanzler Friedrich Merz und Dobrindt „wollten mit dem Kopf durch die Wand und sind damit krachend gescheitert“.
Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht sich in ihrer Skepsis bestätigt. „Wir haben von Anfang an gesagt, dass die jetzt eingeführte Verfahrensweise, Zurückweisung von Asyl- und Schutzersuchenden, juristisch stark umstritten ist“, sagte der Vorsitzende des GdP-Bereichs Bundespolizei, Andreas Roßkopf, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Zitiervorschlag
VG Berlin fällt erste Eilentscheidungen:
. In: Legal Tribune Online,
02.06.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/57326 (abgerufen am:
02.06.2025
)
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