Die Bundesregierung will Aufnahmeprogramme für Afghanen nicht fortsetzen. Einige haben aber bereits den ersten Teil der Aufnahmezusage bekommen. Der ist bindend, entschied das VG Berlin, die Visa müssen erteilt werden.

Die Bundesregierung muss einer Afghanin und ihrer Familie Visa zur Einreise nach Deutschland erteilen, nachdem entsprechende Zusagen gemacht wurden. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin in einem Eilverfahren im Streit um das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen entschieden. Auch Teil 1 der Aufnahmezusage sei nicht bloß eine behördliche Mitteilung, sondern ein bindender Verwaltungsakt, heißt es zur Begründung in dem Beschluss (v. 07.07.2025, Az. VG 8 L 290/25 V), der LTO vorliegt.

Damit war der Eilantrag der Frau und ihrer 13 Familienangehörigen, die derzeit in Pakistan auf Visa warten, in erster Instanz erfolgreich. Laut Beschluss hatte sich die Juristin zwischen 2013 und 2015 mehrfach als Gastwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg aufgehalten. Das Auswärtige Amt ist nach der Entscheidung verpflichtet, sofort zu handeln, also den Familienmitgliedern Visa auszustellen. Gegen den Eilbeschluss kann aber noch Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden verschiedene Aufnahmeverfahren für Menschen aus Afghanistan eingerichtet. Betroffen davon sind beispielsweise Menschen, die sich für Gleichberechtigung und Demokratie eingesetzt haben, sowie Richter, Journalisten oder Künstler. Die neue schwarz-rote Bundesregierung setzte die Programme Anfang Mai aus. Die erklärte Absicht ist, die Programme zu beenden. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes vom 20. Juni warten rund 2.400 Menschen in Pakistan darauf, dass sie ein Visum bekommen. 

Streit über zweiteilige Aufnahmezusage 

Im Fall einer Familie stellt das VG Berlin nun klar: Wer eine bestandskräftige Aufnahmezusage, Teil 1, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erhalten hat, welche nicht nachträglich wirksam zurückgenommen oder widerrufen wurde, hat einen Anspruch auf ein Visum. Die Bundesregierung hatte demgegenüber argumentiert, für einen Anspruch auf Visumserteilung sei Teil 2 der Aufnahmezusage nötig, die die Afghanin im vorliegenden Fall noch nicht hatte. Diese Bescheinigungen werden den Betroffenen erst kurz vor dem Abflug nach Deutschland ausgehändigt.

Die Aufteilung der Aufnahmezusage auf zwei Teile ist im Rahmen der Aufnahmeprogramme ein übliches Vorgehen. Laut Gerichtsbeschluss enthält Teil 1 zwei wesentliche Verfügungen: erstens die Aufnahme der betroffenen Person ins Aufnahmeprogramm mit der Maßgabe, dass diese innerhalb eines Jahres den Visumsantrag beim Auswärtigen Amt stellt. Zweitens den Vorbehalt des Widerrufs dieser Aufnahme in bestimmten Fällen, etwa wenn Zweifel an der Identität bestehen. Teil 2 enthält laut Gericht die Information, dass das Aufnahmeverfahren abgeschossen sei und die Aufnahmezusage „hiermit bestätigt“ werde.

VG: Aufnahme ins Aufnahmeprogramm ist ein Verwaltungsakt  

Während die Bundesregierung argumentierte, dass erst Teil 2 die Voraussetzungen eines bindenden Verwaltungsaktes erfülle, Teil 1 hingegen nur eine behördliche Mitteilung sei, sah das VG Berlin es genau umgekehrt. 

Hintergrund ist § 23 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz, der die Möglichkeit von Aufnahmeprogrammen regelt. Danach kann das Bundesinnenministerium zusammen mit den Ländern dem BAMF aufgeben, „Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage“ zu erteilen.

Bei der Aufnahme der betroffenen Person in ein solches Programm – unter bestimmten Voraussetzungen und Vorbehalten – handele es sich um Regelungen mit Außenwirkung, so die 8. Kammer. Teil 1 der hier erteilten Aufnahmezusage erfülle damit bereits die Voraussetzungen für einen Verwaltungsakt nach § 35 S. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz. Das BAMF hätte die Zusage also widerrufen müssen, um sich von ihr zu lösen. Das war aber nicht geschehen.

Die Bindungskraft von Teil 1 ist nach Auffassung des VG damit auch nicht von Teil 2, der Mitteilung des Verfahrensabschlusses, abhängig. Die Aufnahmebescheide Teil 2 enthielten selbst keine Regelung. „Sie informieren die Betroffenen lediglich darüber, dass das Aufnahmeverfahren abgeschlossen ist und die Aufnahmezusage bestätigt wird“, so die 8. Kammer, die ergänzte: „Eine Verfahrensabschlussmitteilung kann indes keine Voraussetzung für die Erteilung eines Visums sein.“

Richter: Bundesregierung kann Programm beenden

Auch die Entscheidung der Bundesregierung, die Aufnahmeprogramme auszusetzen, ändere daran nichts. Zwar könne die Bundesregierung frei darüber entscheiden, ob sie das Aufnahmeverfahren für afghanische Staatsangehörige beenden will – oder unter welchen Voraussetzungen eine Fortsetzung denkbar ist. Auch könne sie von neuen Aufnahmezusagen absehen. Bereits gemachte, bestandskräftige Zusagen blieben aber wirksam, solange das BAMF sie nicht widerruft. „Von dieser freiwillig zu einem frühen Zeitpunkt im Aufnahmeverfahren eingegangenen und weiter wirksamen Bindung kann sich die Bundesrepublik Deutschland nicht dadurch lösen, dass sie die Beendigung des Aufnahmeprogramms prüft“, so der Beschluss.

Die weiteren Voraussetzungen für ein Visum sah das Gericht bei der Afghanin und ihrer Familie als erfüllt an. Es seien keine Sicherheitsbedenken ersichtlich, und die Identität der Menschen sei hinreichend geklärt. Im Eilverfahren wurde diese Frage zwar nicht abschließend geklärt, jedoch ging das Gericht mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ davon aus, dass es sich bei der Antragstellerin um die richtige Person handelt. 

Auch die Eilbedürftigkeit sei gegeben. Der Familie droht nach eigenen Angaben die Abschiebung aus Pakistan nach Afghanistan, wo ihr Leben unter der Herrschaft der radikalislamischen Taliban gefährdet sei. Dies wurde aus Sicht des Gerichts glaubhaft dargestellt.

Einzelfallentscheidung mit Breitenwirkung

Die Entscheidung ist zwar formal nur eine Eilentscheidung, sie verpflichtet jedoch die Bundesregierung zur Ausstellung der versprochenen Visa, entscheidet die Sache somit durch. Die erhöhten Anforderungen für eine solche „Vorwegnahme der Hauptsache“ seien erfüllt. Insbesondere bestehe der Visumsanspruch mit hoher Wahrscheinlichkeit.

Auch handelt es sich formal nur um eine Einzelfallentscheidung. Jedoch dürfte diese für all diejenigen relevant sein, die ebenfalls eine Aufnahmezusage Teil 1 erhalten haben. 

So sieht es auch der Leipziger Rechtsanwalt Dr. Matthias Lehnert (Jentsch Rechtsanwälte), der die Familie vertreten hat. „Der Beschluss ist nicht nur eine Einzelfallentscheidung, denn das Gericht sagt grundsätzlich und mit Blick auf alle Menschen mit einer deutschen Aufnahmezusage: Die Bundesregierung ist rechtlich verpflichtet, die Zusagen umzusetzen, und zwar schnell“, so Lehnert gegenüber LTO. Nun müsse die Bundesregierung handeln, um zu verhindern, dass Menschen in den nächsten Wochen und Monaten nach Afghanistan abgeschoben werden, so Lehnert. „Es steht nun schwarz auf weiß: Dazu ist sie nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich verpflichtet.“

Die innen- und fluchtpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Clara Bünger, kommentierte die Entscheidung ähnlich. Das Gericht habe eindeutig klargestellt, dass die bestehenden Zusagen im Rahmen der deutschen Aufnahmeprogramme rechtlich bindend sind. „Die Bundesregierung muss den betroffenen Afghan:innen Visa ausstellen, auch wenn sie die Programme zukünftig beenden will. Jedes andere Vorgehen wäre nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch rechtswidrig.“

Gutachten: Bundesregierung kann sich strafbar machen

Vor dem VG Berlin sind zahlreiche weitere Klagen anhängig: Mit diesen Klagen will die Organisation „Kabul Luftbrücke“ die Fortsetzung des Aufnahmeprogramms für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen erzwingen. Die Betroffenen hätten ihre Heimat verlassen im Vertrauen auf deutsche Versprechen, erklärte Sprecherin Eva Beyer im Juni, als die ersten 26 Verfahren in Berlin eingereicht wurden.

Dem Gericht liegen nach eigenen Angaben schätzungsweise etwa 40 Fälle als Eilanträge und Klagen zu der Thematik vor. Diese seien aber zum Teil unterschiedlich gelagert, erklärte die Gerichtssprecherin. Über die Verfahren müssten jeweils unterschiedliche Kammern entscheiden. Es sei unklar, wann dies geschehe. Offen ist auch, ob die anderen Richterinnen und Richter die gleiche Auffassung vertreten wie aktuell die 8. Kammer.

Menschen aus Afghanistan trotz erteilter Aufnahmezusagen kein Visum auszustellen, könnte auch strafrechtlich relevant werden. Die Organisation ProAsyl stellte ebenfalls am Dienstagvormittag ein Gutachten des Rechtsanwalts Dr. Robert Brockhaus (KM8 Rechtsanwälte) vor. Danach könnten sich Mitglieder der Bundesregierung und involvierte Beamte unter bestimmten Voraussetzungen durch Unterlassen wegen einer Aussetzung von Personen in einer hilflosen Lage (§§ 221, 13 Strafgesetzbuch, StGB) oder unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) strafbar machen. Der strafrechtliche relevante Vorwurf besteht laut Brockhaus darin, dass die Bundesregierung es geschehen lässt, dass die Betroffenen aus Pakistan nach Afghanistan abgeschoben werden. Die Garantenpflicht, die die Unterlassungsstrafbarkeit nach § 13 StGB voraussetzt, beruhe auf dem pflichtwidrigen Vorverhalten (Ingerenz), das darin bestehe, dass die Zusagen nicht eingehalten werden.

Mit Material der dpa

Hinweis: Angaben zur Person der Antragstellerin wurden nachträglich ergänzt (Tag der Veröffentlichung, 17:07 Uhr). 

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

VG Berlin zu Afghanistan-Aufnahmeprogrammen:

. In: Legal Tribune Online,
08.07.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/57603 (abgerufen am:
14.07.2025
)

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