„Organisiertes Staatsversagen“ oder „populistische Skandalisierung“? Die CDU greift in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft Hamburgs Justizpolitik frontal an – und trifft auf die grüne Senatorin Anna Gallina, die sich kämpferisch verteidigt.

Überbelegte Gefängnisse, zehntausende offene Verfahren, fehlendes Personal – Hamburgs Justiz steht unter Druck von vielen Seiten. Wer dafür verantwortlich ist, darüber stritten Opposition und die rot-grüne Koalition am Mittwoch in der Bürgerschaft. CDU und AfD sprachen von einem „Kollaps“, die Justizsenatorin von gezielter Skandalisierung. Dazwischen: Zahlen, Zitate und viel zuspitzende Rhetorik.

Die CDU warf dem rot-grünen Senat vor, Hamburgs Justiz in einen Zustand der Überforderung und Nachgiebigkeit geführt zu haben. Die Regierungskoalition konterte mit Zahlen, Investitionen – und dem Vorwurf, die CDU betreibe populistische Stimmungsmache auf dem Rücken der Justiz.

Richard Seelmaecker, justizpolitischer Sprecher der CDU und selbst Jurist, eröffnete die Debatte mit einem drastischen Beispiel: Eine 84-jährige Frau wird mitten in der Hamburger Innenstadt beraubt, der Täter wird gefasst, verurteilt – aber nicht inhaftiert. „Die Justizvollzugsanstalten waren überbelegt“, so Seelmaecker. „Ein trauriger Einzelfall? Nein. Ende April wurden bei 517 verurteilten Straftätern die Vollstreckung aufgeschoben, bei 27 sogar unterbrochen.“

Mit Verweis auf überbelegte Haftanstalten sprach Seelmaecker von einem „organisierten Staatsversagen“. Besonders scharf kritisierte er die Ausweitung des offenen Vollzugs auf Drogendelikte: „Damit werden Tür und Tor geöffnet für genau die Täter, die nicht in den offenen Vollzug gehören.“ 94 verurteilte Drogendealer seien Anfang des Jahres als Freigänger unterwegs gewesen. Der Landesvorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten, Jan Reinecke, habe das als „Meisterschule des Rauschgifthandels“ bezeichnet.

AfD wirft Justiz „Entlassungen nach Gutdünken“ vor

Auch die Situation an den Gerichten sei dramatisch: „Seit zwei Jahren gibt es nur noch Priorisierungsbetrieb“, so Seelmaecker. „Alles andere muss warten.“ 57.000 offene Ermittlungsverfahren zählte die CDU zum Stichtag 31. März. Besonders betroffen: Verfahren zu Betrug, Drogenkriminalität, Cybercrime und Jugenddelikten. Die Justiz sei „personell ausgedünnt“, die Arbeitsbedingungen „unzumutbar“. Seelmaecker: „Wo sollen denn die nächsten verurteilten Täter in Hamburg hin? In die Warteschleife, in irgendeinen Orbit oder gleich zurück auf die Straße?“

Auch der AfD-Fraktionsvorsitzende und frühere Innensenator Dirk Nockemann ging Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) scharf an. Nockemann sprach von einem „systematischen Kollaps“ der Justiz. Der offene Vollzug sei zur „Entlassung nach Gutdünken“ verkommen, die Justizsenatorin betreibe „Resozialisierungspolitik ohne Augenmaß“. Nockemann warf Gallina vor, mit ihrer Personalpolitik Einfluss auf Ermittlungsverfahren zu nehmen – ein Vorwurf, den die Senatorin in aller Schärfe zurückwies.

Wie Gallina überhaupt alle Vorwürfe der Opposition spitz konterte. Die CDU betreibe „Skandalisierung durch Weglassen wichtiger Fakten“ und bediene sich eines Vokabulars, das „sonst vor allem von ganz rechts außen“ komme, so die Justizsenatorin. Der Begriff „grüne Kuscheljustiz“ sei nicht nur irreführend, sondern gefährlich: „Sie insinuieren, dass Urteile je nach Parteibuch gefällt werden – das ist Unsinn.“

„Das sind harte Zahlen für harte Jungs“

Gallina verwies auf drei große Stellenoffensiven in der vergangenen Legislaturperiode, darunter neue Stellen für die Strafjustiz. Der Fokus liege auf der Bekämpfung organisierter Kriminalität, Drogen- und Waffenhandel, Kinderpornografie sowie häuslicher Gewalt. „Das hat mit Kuschelig gar nichts zu tun“, sagte Gallina. „Das sind harte Zahlen für die harten Jungs.“

Auch die Einführung der E-Akte, die engere Zusammenarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie neue Pilotprojekte wie gemeinsame Eingangsstellen seien Teil einer umfassenden Modernisierungsstrategie. Dass die Entlastungseffekte noch nicht überall spürbar seien, liege in der Natur der Sache: „Sie haben sich genau diesen Zeitpunkt gesucht, um zu meckern – obwohl Sie wissen, dass die Lösung bereits auf dem Weg ist.“

Zur Kritik am offenen Vollzug sagte Gallina: „Geeignete Gefangene sind im offenen Vollzug unterzubringen – das ist geltendes Recht, kein Gnadenakt.“ Die CDU verschweige, dass die entsprechende Verfügung aus ihrer eigenen Regierungszeit stamme – damals ohne die heute geltenden Einschränkungen, wie etwa, dass Gewalt- und Sexualstraftäter dort nicht untergebracht werden dürfen. „Ist Ihnen das gar nicht peinlich?“, fragte Gallina in Richtung CDU.

Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen stellten sich demonstrativ hinter die Justizbehörde. Die CDU zeichne ein „verzerrtes Bild“ und schwäche mit ihrer Sprache das Vertrauen in rechtsstaatliche Institutionen, sagte die SPD-Abgeordnete Sarah Timmann, Fachsprecherin für Justiz ihrer Fraktion. „Die Justiz arbeitet unter hohem Druck – aber sie arbeitet. Und sie wird nicht allein gelassen.“

Kuscheljustiz – ein Wort aus der Märchenwelt?

Auch die Grünen warfen der CDU vor, mit Begriffen wie „Kuscheljustiz“ und „Staatsversagen“ Narrative zu bedienen, „die wir sonst nur von ganz rechts außen hören“. Die rechtspolitische Sprecherin Lena Zagst zitierte die frühere Vorsitzende des Hamburger Richtervereins, die in der Welt gesagt habe: „Manche Menschen wollen sich offenbar aufregen und das Märchen von der Kuscheljustiz bewahren.“

Gemeinsam verwiesen SPD und Grüne auf Investitionen, Digitalisierung und strukturelle Reformen. Hamburg gebe pro Kopf mehr Geld für die Justiz aus als jedes andere Bundesland, so Zagst. „Wir investieren, wir bauen aus, wir schaffen Stellen, Strukturen und Vertrauen.“

Die Linke warf der CDU vor, mit dem Begriff „Kuscheljustiz“ nicht nur die Justizbeschäftigten zu diffamieren, sondern auch die Grundprinzipien des Rechtsstaats zu untergraben. Jan Libbertz, Fachsprecher für Justizpolitik sagte: „Die Aufgabe der Justiz ist nicht Härte zu inszenieren, sondern gerecht, differenziert und verfassungsgemäß zu handeln.“ Resozialisierung sei kein Kuschelkurs, sondern „wirksame Kriminalprävention“. Gleichzeitig kritisierte Libbertz die Überlastung der Justiz: 48.000 unbearbeitete Verfahren, über 45 unbesetzte Stellen bei der Staatsanwaltschaft. „Unser Rechtsstaat braucht Lösungen, nicht Lärm.“