Der Magdeburg-Attentäter Taleb A. schrieb fünf Geschädigten aus der Untersuchungshaft. Die Justiz wusste davon, verhinderte es aber aus Rechtsgründen nicht. Die Rechtslage erklärt – in fünf Fragen an Matthias Jahn.
Kurz vor Heiligabend 2024 fuhr Taleb A. mit einem Auto ungebremst über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Er tötete dabei sechs Menschen und verletzte weitere 323. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg ermittelt wegen vollendeten und versuchten Mordes. Seit dem 22.12.2024 sitzt A. in Untersuchungshaft, nach einer Verlegung mittlerweile in Berlin. Von dort aus kontaktierte er fünf Geschädigte per Brief. Das geschah mit Kenntnis der Justiz, denn die überwacht A.s Post. Der Vorfall hat eine Debatte um Opferschutz und Beschuldigtenrechte ausgelöst. Der Bundesopferbeauftragte sprach sich am Dienstag sogar für eine Gesetzesänderung aus.
LTO: Ein Attentäter kontaktiert aus der Untersuchungshaft heraus mehrere Geschädigte – die Justiz weiß davon und verhindert es nicht. Herr Professor Jahn, das müssen Sie uns erklären: Kann der Schriftverkehr eines Beschuldigten während der Untersuchungshaft nicht kontrolliert oder beschränkt werden?
Prof. Dr. Matthias Jahn: Doch, das geht beides grundsätzlich schon. Es ist auch recht präzise gesetzlich geregelt. Die Regeln unterscheiden sich allerdings, je nachdem, ob die Person in Untersuchungshaft sitzt oder – nach rechtskräftiger Verurteilung – eine Haftstrafe verbüßt. Der wegen des Magdeburg-Attentats Beschuldigte ist noch nicht verurteilt, sitzt noch in U-Haft.
Welche Vorschriften gelten dann? Unter welchen Voraussetzungen kann der Schriftverkehr überwacht oder gar abgefangen werden?
Bis zur rechtskräftigen Verurteilung ist § 119 Strafprozessordnung (StPO) in Verbindung mit dem jeweiligen landesrechtlichen Untersuchungshaftvollzugsgesetz, wo die Details geregelt sind, einschlägig. Das Gesetz ermöglicht nur in den dort einzeln aufgeführten Fällen eine Beschränkung der Freiheitssphäre des Untersuchungsgefangenen. So kann nach § 119 Abs.1 Nr.2 StPO zwar angeordnet werden, dass der Schriftverkehr des Untersuchungsgefangenen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr überwacht wird. Das Anhalten des Schriftverkehrs ist jedoch nur möglich, wenn die Strafprozessordnung selbst oder das Untersuchungshaftvollzugsgesetz des jeweiligen Landes diese Beschränkung ausdrücklich gestattet.
Im Fall von Taleb A. ist § 119 StPO in Verbindung mit § 39 Abs. 1 des Untersuchungshaftvollzugsgesetz Berlin (UVollzG) maßgeblich, da sich Taleb A. derzeit dort in Untersuchungshaft befindet. § 39 Abs.1 UVollzG erlaubt der Anstalt das Anhalten von Schreiben nur in vier abschließend aufgeführten Fällen. Keiner ist vorliegend einschlägig, weil durch die Schreiben die Sicherheit und Ordnung der Untersuchungshaftvollzugsanstalt nicht gefährdet wird und durch die Schreiben, soweit ihr Inhalt derzeit bekannt ist, kein Straftatbestand verwirklicht wurde, etwa bei der Bedrohung von Tatzeugen oder Vergleichbarem.
Also ist die Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg, A.s Briefe hier aus rechtlichen Gründen nicht aufzuhalten, hier nachvollziehbar?
Ja, trotz aller Empörung, die eine solche Vorgehensweise eines Untersuchungsgefangenen schon ausgelöst hat: Die Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaft ist rechtlich zutreffend, weil das Gesetz unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung den Staat während des Untersuchungshaftvollzugs Fesseln anlegt. Diese Tatbestände sind auch nicht aufgrund moralischer Empörung analogiefähig.
Im Ergebnis heißt dies, dass allein die Tatsache der moralischen Fragwürdigkeit einer direkten Ansprache der Verletzten durch den Beschuldigten der Haftanstalt keinerlei Handhabe vermittelt, um solche Schreiben anzuhalten und nicht weiterzuleiten. Täte sie dies dennoch, würde sie rechtswidrig handeln.
Ich erinnere hier an das Wort von Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts: „Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen.“ Das ist manchmal schwer zu ertragen, aber im Rechtsstaat alternativlos.
Warum erlaubt das Gesetz einem Untersuchungsgefangenen grundsätzlich, zu den Opfern Kontakt aufzunehmen?
Es handelt sich um eine legitime Grundrechtsausübung eines Beschuldigten, für den die Unschuldsvermutung gilt. Die Grundnorm ist Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG): „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Zu dieser Unverletzlichkeit der Freiheit gehört auch die durch die Unschuldsvermutung geschützte freie Kommunikation des Untersuchungsgefangenen mit seiner Außenwelt.
In Rechnung stellen muss man zudem, dass Taleb A. mit diesem Schreiben möglicherweise versucht, durch eine Entschuldigung bei den Verletzten die Strafzumessung des zu erwartenden Urteils zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Versucht der Täter, einen Ausgleich mit den Geschädigten zu erreichen, kann sich dies im Einzelfall positiv auf das Strafmaß oder – etwa bei lebenslanger Freiheitsstrafe – auf Fragen wie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld auswirken.
In dem Fall kann man gut erkennen, was Untersuchungshaft auch bedeutet: Alles, was nicht mit Haftgründen wie der Verdunklungsgefahr kollidiert und nicht ausdrücklich, etwa wegen der Ordnung der Haftanstalt verboten ist, bleibt erlaubt. Das führt zum Aufeinanderprallen der Freiheitsausübung eines Untersuchungsgefangenen, der sich prinzipiell ungeschmälert auf seine Kommunikationsgrundrechte berufen kann, mit den legitimen Interessen von Opfern und Hinterbliebenen. Und das wiederum führt der Öffentlichkeit und der Politik vor Augen, dass sich die Unschuldsvermutung nicht nur für Sonntagsreden eignet, sondern im Einzelfall auch zu irritierenden Konsequenzen führen kann.
Im Strafvollzug wäre das aber anders: Hier hätte die Gefängnisverwaltung die Post unter Umständen auch aus Gründen des Opferschutzes aufhalten dürfen, unter den Voraussetzungen von § 35 Nr. 3 Strafvollzugsgesetz Berlin. Wie ist dieser Unterschied zu erklären?
Für den rechtskräftig verurteilten Straftäter gelten andere Gesetze und die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr. Dann gilt das Strafvollzugsgesetz des Bundeslandes, in dem die Haft vollzogen wird. Dort gibt es zwar prinzipiell keine vollständige Untersagung des Schriftverkehrs, da dies dem Interesse an der Resozialisierung des Strafgefangenen zuwiderlaufen würde, wohl aber Beschränkungsmöglichkeiten für die Kommunikation des Strafgefangenen mit seiner Außenwelt.
Herr Professor Jahn, vielen Dank für Ihre Einschätzungen.
Prof. Dr. Matthias Jahn ist Inhaber eines Lehrstuhls für Straf- und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt und Richter am dortigen Oberlandesgericht und Mitherausgeber der Zeitschrift Strafverteidiger.
Zitiervorschlag
Magdeburg-Attentäter schreibt Briefe an Opfer:
. In: Legal Tribune Online,
29.07.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/57779 (abgerufen am:
30.07.2025
)
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