Auf den ersten Blick führt Petra Anners ein beschauliches Leben. Im Hamburger Stadtteil Bramfeld hat sie in einer kleinen Mietwohnung ihr Zuhause gefunden, in einem Quartier aus Ein- und Mehrfamilienhäusern, umgeben von Parks und Kleingärten, entlang des Baches Osterbek. Die 58-Jährige ist zufrieden, wenngleich ihr Alltag häufig von Belastungen geprägt ist. Hauptgrund dafür ist eine Psychose, an der sie seit Langem leidet und weshalb ihr an manchen Tagen einfache Erledigungen wie unüberwindbare Hürden erscheinen. Petra Anners hat gelernt, damit umzugehen – und das liegt maßgeblich an ihrem Berufsbetreuer Florian Selle.
Anners ist eine von 70 Personen, die der Wirtschaftsjurist und Sozialarbeiter gerichtlich bestellt betreut – Erwachsene, die aufgrund einer psychischen Krankheit, geistigen oder körperlichen Behinderung oder Suchterkrankung ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln können. „Berufsbetreuer sind eine Art persönlicher Anwalt des Betroffenen“, beschreibt es Selle im Gespräch mit WELT AM SONNTAG, als er im Wohnzimmer von Petra Anners Platz nimmt.
Seit sechs Jahren begleitet der 38-Jährige die Hamburgerin auf dem Weg zurück in die Eigenständigkeit – und kämpft dabei selbst mit Herausforderungen, die Bund und Land ihm aufbürden. Bürokratische Auflagen und langwierige Bearbeitungen bei Ämtern und Gerichten rauben Selle jene Zeit, die ihm bei seinen Klienten für die persönliche Beratung fehlt.
In Hamburg kümmern sich derzeit 920 Berufsbetreuer und 11.003 Ehrenamtliche um insgesamt 25.842 Menschen, wie die Antwort von Rot-Grün auf eine Große Anfrage der CDU-Fraktion jüngst ergab. Zusätzlich befinden sich mit Stand Mitte Mai 1256 Verfahren zur Bestellung einer Betreuung in Bearbeitung. Bundesweit stehen 1,3 Millionen Bürger unter einer gesetzlichen Betreuung, umsorgt von 17.000 Berufsbetreuern und 500.000 Ehrenamtlichen.
In der Hansestadt ist die Abteilung für Betreuungssachen an den Amtsgerichten für die rechtliche Betreuung zuständig. Diese wird verfügt, nachdem das Gericht geprüft hat, ob der Schritt notwendig ist. Zwar kann das Verfahren durch Dritte wie Angehörige, Behörden oder Einrichtungen angestoßen werden. Wenn der Betroffene die Betreuung ablehnt und dabei eine freie Willensbildung möglich ist, darf keine Betreuung angeordnet werden.
Für Petra Anners war der Moment, sich helfen zu lassen, der Wendepunkt. Zuvor ist ihr Leben bereits früh aus den Fugen geraten, sie wächst in schwierigen Familienverhältnissen auf. „Es gab immer Probleme“, blickt die 58-Jährige zurück und beschreibt, wie sie trotz ihres geliebten Berufs als Konditorin allmählich abrutscht. Anners erinnert sich, dass ihre Psychose im Alter von 20 Jahren beginnt. Die Krankheit belastet die Beziehung zu ihrem damaligen Partner und ihrer Tochter so sehr, dass das Kind kurzzeitig in einem Heim lebt. Anners macht Schulden, trinkt zu viel, ist unfähig, ihren Job noch auszuüben und geht in Frührente. „In dieser Zeit bekam ich eine Betreuerin, die Vorgängerin von Herrn Selle, und beide haben mir nach und nach geholfen“, sagt Anners.
Zahl der jungen Mandanten wächst massiv
Der Fall ist typisch. In Hamburg ist die Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen mittlerweile die größte unter den Betreuten. Hinzu kommen mehr Erwachsene zwischen 18 und 44 Jahren. Berufsbetreuer Selle ordnet ein: „Zum einen gibt es aufgrund des demografischen Wandels mehr ältere Menschen sowie geistig oder körperliche beeinträchtigte Klienten.“ Zum anderen wachse die Zahl der jungen Mandanten massiv, die in den Bereich der Hospitalisierung und Forensifizierung abdrifteten. „Das sind die Klienten, die immer mehr Berufsbetreuer immer öfter betreuen – Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die meist unter einer paranoiden Schizophrenie leiden und eigen- und fremd gefährdend agieren können“, betont Selle.
Der Jurist und Sozialarbeiter beobachtet bei seinen Fällen, dass die Psychosen oft auf Cannabiskonsum zurückzuführen sind, in Verbindung mit genetischen Faktoren und psychischen Belastungen. „Ich habe Klienten, die ein normales Leben geführt haben, bis sie Cannabis konsumiert haben – und nun in geschlossenen Einrichtungen sind.“
Ähnlich schätzt der Bundesverband der Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer (BdB) die Entwicklung ein. „Es gibt noch den älteren Menschen, bei dem andere feststellen, dass er auffällig wird und sein Briefkasten überquillt“, sagt Jens-Christian Schmitz von der Landesgruppe Hamburg und fügt hinzu: „Das sind in unserer heutigen Arbeit aber die Ausnahmen.“ Dass seine Mandanten jünger werden, begründet Schmitz damit, dass „wir es mit der Generation von Kindern zu tun haben, die in Hartz-IV- und Bürgergeldmilieus aufgewachsen sind und als Erwachsene in das Betreuungssystem hineinrutschen“. Jene Gruppe befinde sich von Geburt an in einem Überlebenskampf, werde mit bedürftigen Eltern groß, die über die Runden kommen müssen.
Schmitz: „Dann ist es umso schwerer für viele Kinder, eine eigene selbstständige Persönlichkeit zu entwickeln. Wer in solchen Verhältnissen aufwächst, wird anfällig für psychische Erkrankungen und Sucht.“ Schmitz hat einst in der Schulsozialarbeit und ambulanten Hilfe mit psychisch Kranken gearbeitet, ehe er Sozialmanagement studiert hat. Er glaubt, dass das Leben komplizierter geworden sei und in der Schule wenig Lebenspraxis wie das Abschließen eines Mietvertrages vermittelt werde. „Zudem treten psychische Erkrankungen in einer Schwere auf, dass die Betroffenen kaum noch in der Lage sind, sich um sich zu kümmern“ und das Angebot an Hilfen zu erkennen. Diese Menschen werden „nur sichtbar in der Krise“, wenn ein Gericht einen Betreuer bestellt.
Petra Anners wurde aufgefangen, ihr Weg steht laut Betreuer Selle für das Prinzip seiner Arbeit. Denn der Sinn des Betreuungsrechts sei nicht, alles für den Klienten zu übernehmen, sondern dessen Interessen bei Bankgeschäften, der Gesundheits- und Vermögenssorge oder der Organisation von ambulanten wie stationären Hilfen so lange zu vertreten, bis er wieder selbstbestimmt handelt. „Obwohl Frau Anners früh an einer schweren Psychose erkrankt ist, hat sie ihr Leben gut hinbekommen“, sagt Selle. So hat er sukzessive Hilfen wie eine ambulante Sozialpsychiatrie installiert, bei der eine Sozialarbeiterin einmal wöchentlich zu ihr kommt und ihr in der Wohnung hilft.
70 Fälle, drei Stunden Zeit – im Monat
Überdies hat sie einen Pflegegrad über die Pflegeversicherung. „Das hat ermöglicht, dass Frau Anners trotz ihrer Erkrankung nicht in eine Einrichtung musste, sondern ihr Leben zu Hause mit einem Kind gemeistert hat“, betont Selle – und wertet den Erfolg auch darin, dass Anners‘ Tochter, heute 24, ihren Schulabschluss gemacht und eine Ausbildung abgeschlossen hat. Selle: „Das war anfangs undenkbar, als die Betreuung für Frau Anners eingerichtet wurde.“
Petra Anners geht es jetzt besser, sie ist medikamentös eingestellt und dankbar dafür, dass sie in ihrem vertrauten Umfeld bleiben darf. Die Betreuung gebe ihr ein sicheres Gefühl. „Herr Selle nimmt mir den Schriftverkehr mit Behörden ab. Das schaffe ich nicht allein“, sagt sie und ergänzt: „Wenn ich Probleme habe, rufe ich Herrn Selle an.“ Manchmal, gesteht sie, wünsche sie sich, dass er mehr Zeit für sie habe, „aber er hat noch andere Betreuungen“.
Als Selle nach seinem Jura-Studium und der Promotion im Bereich Soziale Arbeit vor acht Jahren als Betreuer begann, hieß es, er brauche 50 Klienten. Gegenwärtig müsse er 70 Betreuungen führen, damit sich seine Arbeit finanziell trage. Das führt dazu, dass er viele Mandanten nur einmal pro Quartal sieht. Die Betreuer mühen sich mit enormen Dokumentations- und Bürokratielasten. „Wir haben Fälle, für die wir einen 50-seitigen Rentenantrag ausfüllen und manches erst recherchieren müssen, weil uns viele Klienten dabei nicht helfen können“, beschreibt Selle.
Problematisch ist ferner die Bearbeitungsdauer in den Behörden, wenn Anträge erst nach Monaten entschieden werden, woraus aber die drängende Hilfeplanung des Klienten resultiert. „Die Zeit fehlt mir bei der Betreuung“, sagt Selle. So schafft er für jeden Mandanten nur das Nötigste, sitzt überwiegend am Schreibtisch – und erwartet, dass der Senat die Probleme löst, statt verwaltet. Nicht zuletzt belastet die Betreuer, dass sie „von der restlichen Lohnentwicklung in allen Bereichen entkoppelt wurden, in denen soziale Arbeit erbracht wird“, kritisiert Landessprecher Schmitz vom Bundesverband BdB.
In Hamburg sind 320 der 920 Berufsbetreuer in der Interessenvertretung organisiert. Schmitz betont: „Wir haben ein großes Problem damit, dass es keine Dynamisierung in unserer Vergütung gibt, dass es stets ein Bundesgesetz braucht und am Ende von den Ländern bezahlt wird.“ Das führe dazu, dass qualifizierte Menschen mit einer Jura- oder Sozialarbeiter-Ausbildung in anderen Professionen mehr Geld verdienten und Berufsbetreuer rar würden. „Ich bekomme pro Fall im Monat so viel Geld, wie man für eine Fahrradinspektion ausgibt: 187 Euro“, verrät Schmitz, was betriebswirtschaftlich betrachtet 3,1 Stunden pro Fall im Monat seien. Realistisch wäre eine Pauschale von 380 Euro pro Mandant.
Entsprechend fordert der Verband, „dass sich Rot-Grün im Bund für vernünftige Arbeitsbedingungen und eine angemessene Vergütung einsetzt“. Schmitz weiter: „Wir brauchen eine Vergütung, mit der wir gegen die Verelendung der Menschen ankämpfen können.“ Schließlich gehe es darum, wie wir als Gesellschaft miteinander lebten und wie lange wir zulassen wollten, dass es vielen Menschen schlecht gehe.
„Im Januar werde ich Oma“
Unterstützung erhalten die Betreuer aus der Opposition – und so verlangt auch der CDU-Abgeordnete Richard Seelmaecker, dass sich der Senat für eine auskömmliche Bezahlung engagiert sowie für eine Vereinfachung von Verwaltungsvorgängen durch automatisierte Datenabgleiche zwischen den Sozialleistungsträgern. Damit konfrontiert, betont Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) auf Anfrage, dass sie die hohe Arbeitsbelastung der Berufsbetreuer sieht und sich um eine spürbare Verbesserung bemüht. Die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und die Tatsache, dass viele Betreuer zeitnah in den Ruhestand gingen, fordere Hamburg heraus.
Folglich möchte Gallina mit einer neuen Kampagne die Attraktivität des Berufs steigern und auf seine gesellschaftliche Bedeutung hinweisen. Auch setze sie sich im Bundesrat für eine Erhöhung der bundesrechtlich geregelten Vergütung ein. „Die Auszahlung der Vergütung muss ohne Verzögerung stattfinden, da sind wir mit Nachdruck und erfolgreich dran“, so Gallina.
Seit Petra Anners betreut wird, haben sich auch ihre Finanzen stabilisiert. Gemeinsam mit ihrem Freund, der sie im Haushalt unterstützt, könne sie von ihren Geldern „gut leben“. Zwar leidet die 58-Jährige inzwischen noch an einer Lungenkrankheit, der Spaziergang zum benachbarten See fällt ihr ohne ihren Gehwagen zunehmend schwerer. Doch blickt sie positiv nach vorn. Den Alkohol und das Rauchen habe sie aufgegeben, vieles erlebe sie nun bewusster und sei etwa gespannt darauf, wie sich ihr Verein, der FC St. Pauli, in der Fußball-Bundesliga künftig neben dem HSV behauptet. Ihr größtes Glück sei jedoch, sagt Petra Anners, dass sie Oma werde. „Im Januar kommt mein Enkelkind zur Welt.“ Das gebe ihr wieder eine Aufgabe im Leben.