So problematisch die einzelnen Redner auf dem „Palästina-Kongress 2024“ auch waren: Die Polizei hätte die dreitägige Versammlung nicht auflösen und verbieten dürfen, so das VG Berlin. Nicht nur die Berliner Polizei handelte rechtswidrig.
Auflösung und Verbot des „Palästina-Kongresses“ durch die Berliner Polizei im April 2024 waren rechtswidrig. Das entschied am Mittwoch das Verwaltungsgericht (VG) Berlin (Urt. v. 26.11.2025, Az. 1 K 187/24). Die Polizei habe nicht ausreichend geprüft, ob es mildere Mittel im Vergleich zur Totalauflösung der dreitätigen Veranstaltung gegeben hätte, die vom 12. bis 14. April 2024 in Berlin in geschlossenen Räumen stattfinden sollte.
„Wir klagen an“, lautete der Untertitel der Konferenz, deren Veranstalter der Berliner Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ war. Die den Kongress unterstützenden Gruppen waren nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden und der Berliner Innenverwaltung überwiegend dem israelfeindlichen „Boykott-Spektrum“ zuzurechnen. Die Liste der eingeladenen bzw. per Video zugeschalteten Redner war einseitig propalästinensisch bzw. israelkritisch, teils wegen Äußerungen aus der Vergangenheit umstritten, so insbesondere der palästinensische Historiker und Aktivist Salman Abu Sitta, der im Vorfeld des Kongresses die „Entschlossenheit und den Mut“ der Terroristen der Hamas und anderer am 7. Oktober beteiligter Gruppen gewürdigt hatte. Ihn, den britisch-palästinensischen Arzt Ghassan Abu Sittah und den linken griechischen Politiker Yanis Varoufakis hatten die Behörden mit Einreiseverboten belegt – Maßnahmen, die von deutschen Gerichten später teilweise für rechtswidrig erklärt worden sind.
Die Entscheidung des VG Berlin ist die erste dazu, inwiefern die Polizei vor Ort rechtmäßig gehandelt hat. Nachdem der per Video zugeschaltete Salman Abu Sittah zu sprechen begonnen hatte, unterbrach die Polizei die Stromversorgung für die Videoübertragung. Anschließend löste sie die Versammlung komplett auf und untersagte, sie an den Folgetagen fortzusetzen. Diese Maßnahmen waren „jedenfalls unverhältnismäßig“, teilte das Gericht am Mittwoch zur Begründung mit.
Mildere Mittel hätten sich aufgedrängt
Zur Begründung verwies die 1. Kammer darauf, dass bis zur Auflösung der Versammlung gegen keine der im Vorfeld erlassenen Beschränkungen verstoßen worden sei. Auch strafbare Äußerungsdelikte habe die Polizei nicht festgestellt. Es sei nicht erkennbar, dass die Polizei mildere Mittel auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen hätte. „Solche milderen Mittel – wie ein Ausschluss einzelner Redner und Teilnehmer – hätten sich hier aufgedrängt“, heißt es in der Mitteilung. Dass dies nicht erfolgversprechend gewesen wäre, habe die Polizei nicht dargelegt. Der besonderen Bedeutung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit sei dadurch nicht hinreichend Rechnung getragen worden.
Die Berliner Polizei hatte das Verbot auf § 22 Abs. 1 Nr. 3 Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz gestützt. Die Vorschrift erlaubt der Versammlungsbehörde Beschränkungen, Verbot und Auflösung einer Versammlung in geschlossenen Räumen, wenn „nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahmen erkennbaren Umständen eine unmittelbare Gefahr dafür besteht, dass in der Versammlung Äußerungen erfolgen, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen darstellen“.
Ob in diesem Fall überhaupt die Voraussetzungen der Norm erfüllt waren, ließ das VG Berlin offen. Die Begehung von Straftaten bei einer Veranstaltung mit mehreren Hundert Personen lässt sich nie gänzlich ausschließen; in der Praxis entscheidend ist daher die Verhältnismäßigkeit. Hier kann berücksichtigt werden, ob der Grad der drohenden Gefahr im Verhältnis zur gewählten Maßnahme steht.
Gefahrenprognose wackelig
Die Gefahrenprognose der Berliner Polizei vor Ort war nach allem, was bekannt ist, jedenfalls denkbar wackelig. Auf LTO-Anfrage teilte sie damals mit: „In die Gefahrenprognose floss ein, dass jederzeit und wiederholt Redende im Rahmen des Kongresses auftreten könnten, welche sich schon in der Vergangenheit antisemitisch oder gewaltverherrlichend öffentlich geäußert haben. Weiterhin war nicht auszuschließen, dass auch weitere Personen, die einem ‚Verbot und der Beschränkung der politischen Betätigung‘ unterlagen, auftreten oder dem Livestream zugeschaltet würden.“
Auf Nachfrage von LTO, warum nicht nur die Videoübertragung an Tag 1 abgebrochen, sondern der gesamte dreitägige Kongress abgesagt wurde, teile die Polizei mit: „Nach Einspielen des Redebeitrages einer Person, für die ein politisches Betätigungsverbot vorlag, weil diese in der Vergangenheit mit ebensolchen Redebeiträgen aufgefallen ist, musste eine neue Gefahrenprognose gestellt werden, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass auch weitere Personen, für die ein ‚Verbot und eine Beschränkung der politischen Betätigung‘ besteht, auftreten oder dem Livestream zugeschaltet würden.“
Das lässt nicht erahnen, dass eine Subsumtion unter konkrete Straftatbestände stattgefunden hätte. Dies legt auch die Aussage nahe, dass „das Erkennen und Verhindern volksverhetzender, gewaltverherrlichender, holocaustleugnender oder antisemitischer Inhalte oberste Priorität hatte“. Das „oder“ macht deutlich, dass man antisemitische Äußerungen offenbar per se für ein strafbares Vergehen hält. Das ist allerdings strafrechtlich falsch: Es gibt keinen Straftatbestand, der antisemitische – oder rassistische und anderweitig menschenfeindliche – Äußerungen verbietet. Dass auch eine einseitige Parteinahme im Nahostkonflikt zugunsten der Palästinenser bis hin zur Infragestellung des Existenzrechts Israels für sich allein keinen Straftatbestand erfüllt, stellte jüngst auch das Oberverwaltungsgericht NRW klar.
Auch Einreise- und Betätigungsverbote rechtswidrig
Gegen das Urteil ließ das VG Berlin die Berufung nicht zu. Das Land Berlin kann einen Antrag auf Zulassung der Berufung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg stellen.
Auch andere behördliche Maßnahmen anlässlich des „Palästina-Kongresses“ hatten Kritik hervorgerufen. Insgesamt waren mehrere Bundes- und Landesbehörden darin involviert, zu verhindern, dass die umstrittene Veranstaltung so stattfinden kann wie von der „Jüdischen Stimme“ geplant. Der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, der die verschiedenen Bescheide im Verfassungsblog analysierte, sprach dort von einer „scharfgestellten Staatsräson“.
Die Gerichte sahen das bislang ähnlich: Im Juli erklärte die 24. Kammer des VG Berlin das politische Betätigungsverbot gegen Ghassan Abu Sittah für rechtswidrig. Das hatte die Berliner Ausländerbehörde auf Betreiben des Bundesinnenministeriums kurzfristig verhängt. So kurzfristig, dass Abu Sittah zunächst einreiste, dann aber am Berliner Flughafen von der Bundespolizei aufgegriffen wurde; er musste nach London zurückfliegen. Die Bundespolizei hatte eine Schengen-Einreisesperre eingetragen. Auch diese Maßnahme hielt gerichtlich nicht stand: Das VG Potsdam erklärte sie bereits im Mai 2024 für rechtswidrig.
Zitiervorschlag
VG Berlin sieht Ermessensfehler:
. In: Legal Tribune Online,
26.11.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/58720 (abgerufen am:
26.11.2025
)
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