Innenminister Dobrindt will trotz der Beschlüsse des VG Berlin mit Zurückweisungen an der Grenze weitermachen. Warum das für Polizisten und auch ihn persönlich rechtlich heikel werden kann, analysiert Patrick Heinemann.
Nur einen Tag nach der Regierungsübernahme am 7. Mai wies Bundesinnenminister Dobrindt (CSU) die Bundespolizei an, nunmehr die Vorschrift des § 18 Abs. 2 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) anzuwenden. Danach ist einem Ausländer die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist. Klingt klar und deutlich. Es ist allerdings in der Rechtswissenschaft unbestritten, dass die schon seit 1997 geltenden Vorschriften des Dubliner-Übereinkommens, später durch die Dublin-II- und die Dublin-III-Verordnung ersetzt, grundsätzlich Anwendungsvorrang vor § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG haben. Danach ist bei Einreise aus einem anderen (sicheren) EU-Mitgliedstaat eine Zurückweisung an der Grenze aktuell unzulässig. Stattdessen ist ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehen.
Aufgrund dieser im Ergebnis klaren Rechtslage ist es keine Überraschung, dass das Verwaltungsgericht (VG) Berlin in drei Beschlüssen entschieden hat, dass die Zurückweisung von drei Somaliern an der polnischen Grenze rechtswidrig war. Die Bundesrepublik könne sich auch nicht darauf berufen, dass die Dublin-Verordnung angesichts einer Notlage unangewendet bleiben dürfe. Insbesondere könne sie die Zurückweisungen nicht auf die Ausnahmeregelung des Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) stützen. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die eine solche Notlage begründen könnte, habe weder die Bundesrepublik dargelegt, noch sei sie ersichtlich.
Bundesregierung will an Zurückweisungspraxis trotzdem festhalten
Noch am selben Tag an dem die verwaltungsgerichtlichen Beschlüsse bekannt wurden, trat der Bundesinnenminister vor die Hauptstadtpresse und verkündete, es handele sich lediglich um Einzelfallentscheidungen. Er gehe davon aus, dass eine Rechtsgrundlage gegeben sei, und deshalb werde die Bundesregierung weiter so verfahren. Und: „Wir streben das Hauptsacheverfahren an“. Das allerdings scheint fraglich, denn das Verwaltungsgericht Berlin geht in den jetzigen einstweiligen Anordnungen davon aus, dass damit die Hauptsache vorweggenommen wurde. Viel spricht dafür, dass sich die Klage der Asylantragsteller damit erledigt, es also gar nicht zu einer Entscheidung in der Hauptsache kommen wird. Ohnehin ist es sehr unwahrscheinlich, dass zumindest das Verwaltungsgericht Berlin in entsprechenden Hauptsacheentscheidungen von seiner jetzigen Rechtsauffassung abweichen würde. Nichtsdestoweniger bestätigte Bundeskanzler Merz einen Tag später die Auffassung seines Ministers auf dem Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes in Berlin. Das Verwaltungsgericht Berlin habe die ”Spielräume hier möglicherweise noch einmal etwas eingeengt“, aber die Spielräume seien „nach wie vor da“. Welche Spielräume er meinte, ließ der Kanzler freilich offen.
Einzelfallentscheidung – mit Bedeutung über den Fall hinaus
Hat die Bundesregierung mit ihrer Auffassung recht? Gibt es noch rechtliche Spielräume? Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Berlin entfalten bereits jetzt unmittelbare Rechtskraft. Denn sie sind unanfechtbar, weil § 80 AsylG in solchen Fällen die Beschwerdeinstanz zum Oberverwaltungsgericht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung ausschließt – eine Regelung, die oft als rechtsschutzverkürzend kritisiert wird, nun aber dem Bund auf die Füße fällt. Diese Rechtskraft greift zwar nur zwischen den Verfahrensbeteiligten, also den drei Somaliern und dem Bund. Doch die tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts Berlin, dass es an einer Notlage im Sinne des Art. 72 AEUV fehlt, die ein Abweichen vom Unionsrecht gestattet, stellt die ganze Argumentationskette der neuen Zurückweisungspraxis infrage und weist damit über Einzelfallentscheidungen klar hinaus. Fehlt es an einer Notlage, bleibt es beim Anwendungsvorrang der Dublin-Verordnung, so dass auch bei Einreise aus einem sicheren Drittland nicht nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG zurückgewiesen werden kann. Trotz der Begründung des VG berief sich das Bundesinnenministerium auf Anfrage von LTO nochmals ausdrücklich unter anderem auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG und Art. 72 AEUV, um das Festhalten an der jetzigen Praxis zu rechtfertigen.
Persönliche Verantwortlichkeit der Beamten
Ganz allgemein dürfte es der Verfassungsrealität guttun, wenn die Bundesregierung die Funktion und Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte respektiert: Das Handeln der Verwaltung und damit auch der Bundesregierung auf Rechtmäßigkeit hin zu kontrollieren und das Recht verbindlich auszulegen, ist schließlich ihre vornehmste Aufgabe.
Doch neben dieser allgemeinen rechtsstaatlichen Kritik stellt sich die ganz konkrete Frage, welche Konsequenzen das für die Praxis hat, wenn doch die Bundesregierung nicht von ihrem Kurs abweichen will? Es geht um die individuelle Verantwortlichkeit der handelnden Polizisten und anderer Amtsträger – bis hoch zum Minister selbst. Ist es wirklich so, dass Bundespolizeibeamte jetzt “keine juristischen Nachteile fürchten” müssen, wie der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Manuel Ostermann, bei WeltTV selbstbewusst verkündete? Auch das Bundesinnenministerium sieht kein strafrechtliches Problem für die Beamten. Gegenüber LTO erklärte das Ministerium: „Die Weisung des Bundesinnenministers gegenüber der Bundespolizei vom 7. Mai 2025 gibt den Beamtinnen und Beamten Handlungs- und Rechtssicherheit.“ Bundesinnenminister Dobrindt bezeichnete es in der Sendung Maischberger als „vollkommen abwegig“, dass Polizisten strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten hätten.
Doch entgegen solcher Verlautbarungen spricht einiges dafür, dass Innenminister Dobrindt sich und seine Beamtinnen und Beamten hier in unsicheres Fahrwasser führt: Die Beamtinnen und Beamten des Bundes, hier also insbesondere der Bundespolizei, tragen nach § 63 Abs. 1 Bundesbeamtengesetz (BBG) für die Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung.
Remonstration führt zum Entfallen einer möglichen Strafbarkeit
Diese Vorschrift führte der Bundesgesetzgeber erstmals Mitte der 1950er Jahre im damaligen Beamtenrechtsrahmengesetz (BRRG) ein. Sie entstand unter dem historischen Eindruck der im Nationalsozialismus offenbar gewordenen geringen Wehrhaftigkeit des Beamtentums gegen den institutionalisierten Rechtsbruch. So soll sich der Beamte bei rechtswidrigem Handeln nicht auf blinden Befehlsgehorsam berufen können. Um gleichwohl den Bedürfnissen einer hierarchischen Struktur zu entsprechen, die das Primat der Politik absichert, können sich Beamte, an die eine rechtswidrige Weisung ergeht, durch Remonstration zum unmittelbaren Vorgesetzten nach § 63 Abs. 2 Satz 1 BBG exkulpieren.
Hält dieser die Anordnung aufrecht, müssen sie bei fortbestehenden Bedenken abermals zum nächsthöheren Vorgesetzten remonstrieren (§ 63 Abs. 2 Satz 2 BBG). Bestätigt dieser die Anordnung, muss der Beamte sie ausführen und ist von der eigenen Verantwortung befreit (§ 63 Abs. 2 Satz 3 BBG). Das gilt aber nicht, wenn das aufgetragene Verhalten die Würde des Menschen verletzt oder strafbar oder ordnungswidrig ist und das für den Beamten auch erkennbar ist (§ 63 Abs. 2 Satz 4 BBG). Jedenfalls bei einem Verhalten, das diese Kriterien nicht erfüllt, sondern ausschließlich einen schuldhaften Verstoß gegen Dienstpflichten und somit ein Dienstvergehen darstellt, führt die Remonstration also stets zur Befreiung von der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit.
Strafrechtliche Beurteilung rechtswidriger Zurückweisungen
Nach welchem Tatbestand könnten Beamte, die rechtswidrige Zurückweisungen vornehmen, sich strafbar machen? In Betracht käme insbesondere eine Nötigung im Amt (§ 240 Abs. 1 und 4 Nr. 2 StGB), da bei der Durchsetzung einer rechtswidrigen Zurückweisung in der Regel Menschen mit Gewalt oder zumindest durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gebracht werden. Hier würde es zum einen darauf ankommen, ob die Zweck-Mittel-Relation im konkreten Einzelfall zur Rechtswidrigkeit der Nötigungshandlung führt (§ 240 Abs. 2 StGB). Zum anderen ist der Rechtswidrigkeitsmaßstab für hoheitliches Handeln im Strafrecht ein anderer als im Verwaltungsrecht.
Ob sich Beamte bei der Ausübung von Hoheitsgewalt strafbar machen, richtet sich weder nach der materiellen verwaltungsrechtlichen Rechtmäßigkeit noch nach der Rechtmäßigkeit entsprechend dem maßgeblichen Vollstreckungsrecht. Vielmehr gilt ein eigener strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff. Dieser verlangt unter anderem eine “pflichtgemäße Prüfung der sachlichen Eingriffsvoraussetzungen” (BVerfG 1 BvR 1090/06). Dabei muss die Vollstreckungshandlung zumindest auf einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage beruhen (BGH 4 StR 168/20). Wenn aber die Rechtslage der aktuellen Zurückweisungspraxis schon prinzipiell entgegensteht, könnte auch dies strafrechtlich durchaus problematisch sein. Dies wird umso mehr gelten, wenn weitere Gerichtsentscheidungen die Zurückweisungspraxis als rechtswidrig einstufen.
Anforderungen an Entschuldigungsgründe
Bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit spielt es dann auch durchaus eine Rolle, ob der Beamte vollständig remonstriert hat. Denn entgegen dem, was Innenminister Dobrindt suggeriert, darf nach überwiegender Auffassung nur ein Beamter, dem der nächste und nächsthöhere Vorgesetzte insgesamt zweimal bestätigt haben, die Anweisung sei rechtlich einwandfrei, darauf auch vertrauen. Wer jedoch nicht remonstriert hat, muss die hohen Hürden des allgemeinen strafrechtlichen Verbotsirrtums nach § 17 StGB nehmen, um sich von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entschuldigen. So oder so dürften die Maßstäbe hier strenger werden, sollte sich eine gefestigte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung im Sinne der jüngsten Berliner Entscheidungen herausbilden. Ab einem gewissen Punkt könnte daher selbst Remonstrieren nicht mehr reichen.
Als Faustformel lässt sich sagen: Je klarer die Rechtswidrigkeit des eigenen Vorgehens ist, desto weniger kann sich ein Polizeibeamter auf einen Irrtum berufen und desto eher kommt eine Strafbarkeit in Betracht. Wer vor der Durchsetzung einer rechtswidrigen Zurückweisung nicht remonstriert hat, setzt sich zudem der Gefahr einer disziplinarrechtlichen Verfolgung eines Dienstvergehens aus. Denn die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns sind im Disziplinarrecht gemeinhin höher als im Strafrecht.
Ganz so leicht wie das Bundesinnenministerium und DPolG-Vize Manuel Ostermann meinen, sollten es sich die betroffenen Beamtinnen und Beamten also besser nicht machen, sondern im Eigeninteresse vor jeder Zurückweisung nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG, die sich auf eine vermeintliche Notlage im Sinne von Art. 72 AEUV stützt, allein schon aus purem Eigeninteresse bei ihren Vorgesetzten remonstrieren. Der Vorsitzende der Bundespolizei in der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Andreas Roßkopf, befürchtet hingegen zu Recht juristische Probleme für Polizisten. Wenn klar sei, dass die Weisung rechtswidrig ist, müssten die Polizeibeamten remonstrieren, um aus der strafrechtlichen Verantwortung herauszukommen, so Roßkopf gegenüber dem WDR.
Rechtliche Verantwortlichkeit des Ministers
Bleibt schließlich neben der politischen auch nach der rechtlichen Verantwortlichkeit des Bundesinnenministers zu fragen, der am 7. Mai die generelle Weisung zu den fraglichen Zurückweisungen nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG gab. Minister unterliegen zwar keinem Disziplinarrecht (§ 8 Bundesministergesetz). Aber anders als Trump, der nach einer Entscheidung des U. S. Supreme Courts des Jahres 2024 als Präsident für Amtshandlungen nicht strafrechtlich belangt werden kann, unterliegt Dobrindt durchaus den allgemeinen Regeln des Rechtsstaats.
Als Leiter des Bundesinnenministeriums untersteht ihm die Bundespolizei (§ 57 Abs. 2 Satz 1 BPolG). Ein Vorgesetzter, der seine Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt verleitet oder zu verleiten unternimmt oder eine solche rechtswidrige Tat seiner Untergebenen geschehen lässt, hat nach § 357 Abs. 1 StGB die für diese rechtswidrige Tat angedrohte Strafe verwirkt. Allerdings wird es beim Bundesinnenminister nichts anderes gelten wie bei allen anderen Vorgesetzten und selbst unmittelbar tätig werdenden Beamten: Spätestens wenn ein zweites oder drittes Gericht Dobrindts Zurückweisungen kassiert hat, ist nicht nur die Mär vom Einzelfall Geschichte, sondern der Minister wird sich auch mit der Frage seiner eigenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit beschäftigen müssen.
Der Autor Dr. Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner bei Bender Harrer Krevet (Freiburg). Er ist zudem Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer.
Zitiervorschlag
Nach Beschlüssen des VG Berlin:
. In: Legal Tribune Online,
04.06.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/57342 (abgerufen am:
05.06.2025
)
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