Fake News und Halbwahrheiten sind der Nährboden für Hetze. Das bekommen die Richter des VG Berlin zu spüren, die Zurückweisungen von Asylsuchenden für rechtswidrig erklärt hatten. Anlass genug, die Fakten noch einmal geradezurücken.
Die Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Grenzen ist unionsrechtswidrig, entschied am Montag das Verwaltungsgericht (VG) Berlin. Obwohl das der klar herrschenden Meinung unter Migrations- und Europarechtlern entspricht, löste die Nachricht dennoch ein mediales Beben aus.
Das lag auch an der Reaktion von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), der am Montagabend ankündigte, mit den Zurückweisungen weitermachen zu wollen wie bisher. Erstens handele es sich nur um eine Einzelfallentscheidung, zweitens könne man argumentativ in der Hauptsacheentscheidung nachlegen.
Das soll offenbar suggerieren: Die Beschlüsse des VG basierten nur auf einer vorläufigen Prüfung und seien nicht verallgemeinerbar. Und weil das so ist, müssten Beamten auch keine dienst- oder strafrechtlichen Sanktionen fürchten. Schließlich wird der Geltungsbereich der Entscheidungen kleingeredet, indem es heißt, sie beziehe sich bloß auf die Zurückweisung nach Grenzübertritt, nicht aber auf die Verhinderung der Einreise.
Zu diesen Halbwahrheiten kamen aus einschlägigen Kreisen noch Verschwörungstheorien hinzu: Das rechtspopulistische Nachrichtenportal Nius kolportierte einen „Geheimplan der Asyllobby“ hinter dem Gerichtsverfahren. Es wurde insinuiert, das Gericht habe seine eigene Zuständigkeit konstruiert. Es folgte eine regelrechte Hetzkampagne gegen die drei Richter der entscheidenden Kammer. Dem Kammervorsitzenden wird zudem eine Nähe zu den Grünen vorgeworfen. Die Unterstellung: Die Beschlüsse sind aus politischen Gründen so ergangen – nicht, weil das Recht es so vorschriebe.
Anlass für einen Faktencheck:
Entscheidung nur „vorläufig“ und „einzelfallbezogen“?
Richtig ist, dass es sich bei den drei Beschlüssen um Einzelfall- sowie um Eilentscheidungen handelt. Doch schmälern beide Umstände hier nicht die Geltungskraft der Entscheidung.
Der Hinweis, es handle sich nur um Einzelfallentscheidungen, ist nichtssagend, denn das trifft auf die allermeisten – auch höchstrichterlichen – Gerichtsentscheidungen zu, auch etwa auf Leitsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs. Der Tenor der Berliner Beschlüsse verpflichtet Dobrindt nicht dazu, die Zurückweisungspraxis bundesweit einzustellen. Jedoch muss er die Entscheidungsgründe berücksichtigen. Die sind allgemeingültig. Schließlich hat das Gericht nicht mit den Fluchtumständen der drei Somalier argumentiert, sondern die Vereinbarkeit der Zurückweisungen mit Unionsrecht grundsätzlich geprüft – und dies verneint. Das Einzelfall-Gerede ist daher eine Nebelkerze, kommentiert Felix Zimmermann auf LTO.
Auch der Einwand, es handle sich nur um ein Eilverfahren, trägt nicht. Zwar werden Rechtsfragen hier grundsätzlich nur vorläufig – in der Fachsprache: summarisch – geprüft. In der Rechtsfolge gilt zudem, dass dem Antragsteller nicht das zugesprochen wird, was er in der Hauptsache begehrt. Vielmehr soll nur ein Zustand geschaffen werden, der ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung ermöglicht, ohne dass in der Zwischenzeit Schäden eintreten, die sich später nicht wiedergutmachen lassen.
Von dieser Grundregel gibt es im Verfahren nach § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) aber eine Ausnahme – und genau die hat das VG Berlin hier als einschlägig erachtet. Das Gericht darf und muss dann bereits im Eilverfahren „durchentscheiden“, also dem Antragsteller das Beantragte zusprechen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, einen solchen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu vermeiden. Diese sogenannte Vorwegnahme der Hauptsache steht unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass ein Sieg des Antragstellers in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Beide Voraussetzungen hat die 6. Kammer des VG Berlin hier bejaht. Damit ist zugleich klar: Selbst wenn das Verfahren in der Hauptsache weiter betrieben wird, dürfte die Bundesrepublik hier verlieren.
Kann die Bundesregierung in der Hauptsache nachliefern?
Die Bundesregierung wertet die Beschlüsse in Bezug auf die von ihr ins Spiel gebrachte „Notlage“ als Aufforderung, im weiteren Verfahren noch Argumente nachzuliefern. Der Konstanzer Migrationsrechtler Daniel Thym sieht dafür ebenfalls Raum. Dem Versuch, eine Überforderung der Bundesrepublik mit hohen Asylantragszahlen zu belegen, sei das Gericht zwar entgegengetreten. „Stattdessen dürfte die Bundesregierung die mittel- und langfristigen Herausforderungen bei der Integration der vielen Asvlbewerber und Flüchtlinge ins Zentrum rücken“, sagt Thym zu LTO. Die Bejahung eines solchen „Notstands“ könnte Deutschland nach Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU gestatten, die Dublin-Regeln unangewendet zu lassen. Thyms Fachkolleg:innen lehnen diese Argumentation aber überwiegend ab. Auch das VG sah für eine Begründung einer solchen Situation bislang keine Anhaltspunkte.
Offen ist zudem, ob es überhaupt zu einem Hauptsacheverfahren kommt. Denn gerade weil das Gericht den drei Somaliern hier – im Wesentlichen – das zugesprochen hat, was sie beantragt haben, hat sich ihr Anliegen insofern erledigt. Erledigung – so heißt auch in der Fachsprache eines der Rechtsinstitute, mit dem der Kläger erreichen kann, dass das Gericht nicht mehr über die Hauptsache, sondern nur noch über die Kosten entscheidet. Daneben besteht die Möglichkeit der Klagerücknahme oder eine Kombination. Wird das Verfahren weitergeführt, liegt laut Thym eine sogenannte Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) nahe: Wäre die erfolgreich, würde das Gericht hier feststellen, dass die Zurückweisungen an der Grenze zu Polen rechtswidrig waren – eine Wertung, die sich allerdings bereits jetzt klar aus den Entscheidungsgründen ergibt.
Ob die von ProAsyl unterstützten Kläger die Hauptsache (weiter) verfolgen wollen, werde derzeit noch beraten, erklärt ProAsyl-Geschäftsführer Karl Kopp auf LTO-Anfrage. Er betont, die Entscheidung sei allein Sache der drei Betroffenen. „Wer aber nicht in der Hand hat, ob das VG Berlin in der Hauptsache entscheidet, ist Herr Dobrindt.“
Dublin durch Nichteinreisefiktion umgehen?
Eher die Qualität eines unbestimmten Raunens als die eines Mythos hat die Behauptung, es mache einen Unterschied, ob Asylsuchenden an oder hinter der Grenze die Einreise verweigert wird und sie in den Nachbarstaat zurückgewiesen werden. Untern anderem in den Sozialen Medien wird immer wieder behauptet, das VG Berlin habe nichts zur Einreiseverweigerung, sondern nur zu Zurückweisungen hinter der Grenze gesagt.
Hier gilt es zu sortieren: Physisch klar unterscheiden kann man die Bereiche vor der Grenze – also im Ausland – und hinter der Grenze – also im Inland. Richtig ist, dass sich die Entscheidung des VG Berlin ausdrücklich nur auf Zurückweisungen von Personen bezieht, die ihr Asylgesuch im Inland geäußert haben, also den sogenannten Schlagbaum bereits passiert haben. Die Situation, dass das Gesuch noch vom Territorium des Nachbarstaats aus gegenüber den Beamten der Bundespolizei geäußert werden, wurde nicht entschieden. Die Konstellation ist aber eher hypothetisch, denn dazu müssten deutsche Grenzbeamte auf dem Territorium des ausländischen Staates hoheitlich tätig werden dürfen. Ein dies gestattendes Abkommen existiert bislang nur mit der Schweiz.
Im vorliegenden Fall äußerten die Antragsteller ihr Asylgesuch im Rahmen der Einreisekontrolle am Bahnhof von Frankfurt (Oder). Nun kann man sich fragen: Ist das noch die Grenze? Und was wäre, wenn die Person erst am dritten oder vierten Bahnhof hinter der Grenze kontrolliert wird? Liegt dann immer noch eine Zurückweisung vor?
„Da stellen Sie interessante Abgrenzungsfragen des deutschen Aufenthaltsrechts. Die sind aber europarechtlich völlig belanglos“, sagt der Gießener Migrationsrechtler Jürgen Bast im Gespräch mit LTO. Allgemeines Aufenthaltsrecht sei nur einschlägig, wenn nicht nach dem – vorrangigen – EU-Recht eine flüchtlingsrechtliche Angelegenheit vorliege. Dafür sei allein das Gesuch um internationalen Schutz maßgeblich. „Sobald eine Person nach Grenzübertritt nach Deutschland ein solches Gesuch äußert, ist Deutschland nach den Dublin-Regeln zuständig für das Dublin-Verfahren“, so Bast.
Damit spielt es für die Unionsrechtswidrigkeit der Zurückweisungen keine Rolle, ob der Asylsuchende sein Schutzgesuch am ersten grenznahen Bahnhof oder erst weiter im Inland äußert. Europarechtlich ist es unerheblich, wenn die Bundespolizei bei einem Asylgesuch, das im Grenzbereich auf deutschem Territorium gestellt wird, nicht von einer „Einreise“ im Sinne des deutschen Rechts ausgeht (Nichteinreisefiktion).
Kann die Bundespolizei bedenkenlos so weitermachen?
Nach alldem ist die Bedeutung der Beschlüsse des VG nicht zu unterschätzen: Sie basieren nach Klarstellung einer Gerichtssprecherin auf einer „Vollprüfung in der Sache“ und beziehen sich auf alle Formen der Zurückweisung und Einreiseverweigerung auf deutschem Territorium. Nicht ausgeschlossen ist, dass andere Verwaltungsgerichte in anderen Einzelfällen anders entscheiden. Da sich die örtliche Zuständigkeit nach der jeweils handelnden Bundespolizeidirektion richtet, kommt hier nicht jedes deutsche Verwaltungsgericht ins Spiel. In München und Stuttgart aber könnten andere Kammern theoretisch andere Entscheidungen treffen.
Doch auch wenn bislang nur die Berliner Entscheidung vorliegt: Die Grenzbeamten und der sie anweisende Bundesinnenminister gehen ein rechtliches Risiko ein, wenn sie die Praxis nun fortführen. Sie laufenden sehenden Auges in die Situation, weitere Niederlagen zu kassieren, die sich irgendwann zu der Gewissheit in der Rechtsprechung verdichten: Die Maßnahmen sind rechtswidrig. Dann stellt sich die Frage dienst- und strafrechtlicher Sanktionen. Minister Dobrindt hat die ebenso lapidar vom Tisch gewischt wie Manuel Ostermann, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft. Warum das riskant ist, hat Verwaltungsrechtler Patrick Heinemann auf LTO analysiert. Beamte könnten sich wegen Nötigung strafbar machen, der Minister wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat.
Die Fake News der konstruierten Zuständigkeit
Nun, da die einigermaßen ernstzunehmenden Mythen abgeräumt sind, bleibt noch eine Verschwörungserzählung: Das VG Berlin habe vorbei am gesetzlichen Richter eine Zuständigkeit der 6. Kammer konstruiert – und die habe dann auch noch politisch-ideologisch entschieden.
Das geht u.a. zurück auf mehrere Artikel der rechtspopulistischen Plattform Nius. In einem Artikel spricht etwa Ex-Bild- und heutiger Nius-Chefredakteur Julian Reichelt mit zwei Co-Autoren von einem „Geheimplan der Asyllobby gegen Dobrindts Zurückweisungen“. Die Autoren schreiben: „Über den Beschluss, der die Somalis betrifft, entschied im Verwaltungsgericht seine 6. Kammer – obwohl laut Geschäftsverteilungsplan eigentlich die 28. Kammer für jene Staatsangehörige zuständig wäre.“ In einer ursprünglichen Version fand sich dort der zusätzliche Satz, die 6. Kammer sei „nicht einmal in fünfter Vertretung für Asylgesuche aus Somalia zuständig“. Dieser wurde inzwischen – ohne entsprechenden Hinweis – gelöscht, der erste Satz steht hingegen noch. Und der ist unzutreffend. Zwar ist für asylrechtliche Angelegenheiten aus Somalia laut Geschäftsverteilungsplan (GVP) tatsächlich die 28. Kammer zuständig. Nur liegt hier keine Angelegenheit des Asylrechts vor – jedenfalls nicht im Sinne der Definition des GVP.
Maßgeblich dafür ist, wer beklagt ist bzw. die Bundesrepublik als Beklagte vertritt. Ist dies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), liegt eine asylrechtliche Angelegenheit vor. Im Fall des VG Berlin war Vertreterin der Beklagten aber die Bundespolizei als handelnde Behörde. Die Zuweisung zur 6. Kammer erfolgt nach einen Auffangtatbestand für „Streitigkeiten, die keiner anderen Kammer zugewiesen sind“.
Nährboden für eine Hetzkampagne
Weiterhin berichteten Nius und das Monatsmagazin Cicero, der Kammervorsitzende habe ein grünes Parteibuch, sei früher in einer linksextremistischen Organisation gewesen. Zudem habe er in den Sozialen Medien Kontakte zu grünen und linken Accounts. In der Vergangenheit habe er sich dagegen ausgesprochen, Flüchtlinge „ausschließlich als ein Problem der ‚inneren Sicherheit'“ zu sehen.
Den Vorwurf der Befangenheit begründet all dies nicht. Weder eine Parteimitgliedschaft noch Äußerungen, die Empathie gegenüber Geflüchteten erkennen lassen. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Beschlüsse von der Kammer gefällt wurde. Denn die für die Fälle jeweils zuständigen Einzelrichterinnen hatten die Sache wegen der grundsätzlichen Bedeutung nach § 76 Abs. 4 Asylgesetz auf die Kammer übertragen. Die beiden weiteren Berufsrichterinnen hätten den Vorsitzenden also überstimmen können.
Sehr schnell hat sich infolge derartiger Verschwörungserzählungen eine Hetzkampagne gegen die an der Entscheidung beteiligten Richter entwickelt. Am Freitag sahen sich die Bundesjustizministerin und ihre Kolleg:innen der Länder dazu aufgerufen, Angriffe auf die Justiz und die richterliche Unabhängigkeit zu verurteilen. „Wer Richterinnen und Richter angreift oder bedroht, greift das Herz unseres Rechtsstaats an“, sagte Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD). In einer gemeinsamen Erklärung sendeten die Ressortchefs die klare Botschaft: „Wir stehen geschlossen an der Seite der Gerichte und Staatsanwaltschaften.“
Inzwischen hat auch Innenminister Dobrindt die Angriffe verurteilt. Zwar hielt er am Freitag im Bundestag an seiner Rechtsauffassung zu den Zurückweisungen fest, stellte aber klar: „Was definitiv nicht geht, ist dass hier Kritik in Form von Gewaltandrohungen gegenüber Richterinnen und Richtern stattfindet.“
Zitiervorschlag
„Vorläufig“, „politisch motiviert“, „unzuständig“:
. In: Legal Tribune Online,
06.06.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/57373 (abgerufen am:
06.06.2025
)
Kopieren
Infos zum Zitiervorschlag