Der Europäische Gerichtshof hat in einem wegweisenden Urteil entschieden, dass Corona-Beihilfen bereits zum Zeitpunkt der rechtswidrigen Ablehnung als gewährt gelten. Diese Entscheidung steht in direktem Widerspruch zum Beschluss des OVG Münster vom 1.7.2025 und schafft Klarheit für tausende betroffene Unternehmen.
Die Ausgangslage: Parallele Problemstellungen
Nur zwei Tage nach dem viel diskutierten Beschluss des
OVG Münster v. 1.7.2025 (Az. 4 A 2468/24) zur Überbrückungshilfe IV hat der Europäische Gerichtshof eine Grundsatzentscheidung (
EuGH, Urteil v. 3.7.2025, C-653/23) getroffen, die die Rechtsauffassung des OVG fundamental in Frage stellt.
Während das OVG Münster kategorisch feststellte, dass Überbrückungshilfen IV nach dem 30.6.2022 nicht mehr gewährt werden dürfen, kommt der EuGH zum gegenteiligen Ergebnis.
Der EuGH hatte über einen lettischen Fall zu entscheiden, der bemerkenswerte Parallelen zum deutschen Überbrückungshilfesystem aufweist. Das Unternehmen TOODE SIA hatte bei der lettischen Steuerverwaltung Corona-Beihilfen beantragt. Die Behörde lehnte die Anträge mit der Begründung ab, die Voraussetzungen hinsichtlich des Umsatzrückgangs seien nicht erfüllt. Das Unternehmen klagte gegen diese Entscheidung, doch während des Gerichtsverfahrens lief am 30.6.2022 die EU-Genehmigung für die Beihilferegelung aus – genau wie beim deutschen Überbrückungshilfeprogramm.
Die Kernfragen an den EuGH
Das lettische Gericht legte dem EuGH zwei entscheidende Fragen vor:
- Wann gilt eine staatliche Beihilfe als „gewährt“ im Sinne des EU-Rechts – zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung oder erst bei der tatsächlichen Auszahlung?
- Handelt es sich um eine „bestehende“ oder „neue“ Beihilfe, wenn ein Gericht nach Ablauf der Beihilferegelung feststellt, dass die Versagung rechtswidrig war?
Diese Fragen sind für die deutsche Überbrückungshilfe von fundamentaler Bedeutung, da sie die gleiche Problematik betreffen: Was geschieht mit berechtigten Ansprüchen, wenn die EU-Genehmigung während des Verfahrens ausläuft?
Die wegweisenden Feststellungen des EuGH
Der EuGH trifft in seinem Urteil mehrere grundlegende Feststellungen, die für die Praxis von erheblicher Bedeutung sind:
1. Der Zeitpunkt der Gewährung
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gelten Beihilfen zu dem Zeitpunkt als „gewährt“, zu dem der Beihilfeempfänger nach nationalem Recht einen sicheren Rechtsanspruch erwirbt. Entscheidend ist dabei nicht die tatsächliche Auszahlung, sondern der Moment, in dem die rechtliche Verpflichtung des Staates zur Gewährung entsteht.
In Fällen rechtswidriger Versagung stellt der EuGH klar: Die Beihilfe gilt bereits zum Zeitpunkt der rechtswidrigen Ablehnung als gewährt, nicht erst bei der späteren gerichtlichen Korrektur. Diese Auslegung sei zwingend, um das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 der EU-Grundrechtecharta zu wahren.
2. Das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf
Der EuGH betont mit bemerkenswerter Deutlichkeit: Dieses Recht wäre illusorisch, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zulasten einer Partei wirkungslos bleibt.
Ein Unternehmen darf seinen berechtigten Anspruch nicht allein deshalb verlieren, weil die Behörde rechtswidrig gehandelt hat und das notwendige Gerichtsverfahren Zeit in Anspruch nimmt. Dies würde das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern und den effektiven Rechtsschutz aushöhlen.
3. Der Status als „bestehende Beihilfe“
Konsequenterweise stuft der EuGH Beihilfen, die vor Ablauf der EU-Genehmigung hätten gewährt werden müssen, als „bestehende Beihilfen“ ein. Dies gilt selbst dann, wenn die tatsächliche Auszahlung erst nach Ablauf der Genehmigung erfolgt. Die spätere Auszahlung stelle lediglich die Situation her, die bestanden hätte, wenn die Behörde von Anfang an rechtmäßig gehandelt hätte.
Der fundamentale Widerspruch zum OVG Münster
Der Beschluss des OVG Münster vom 1.7.2025 vertritt eine diametral entgegengesetzte Rechtsauffassung. Das OVG argumentiert formalistisch: Nach dem 30.6.2022 könnten Überbrückungshilfen IV nur noch gewährt werden, wenn bereits vorher ein „sicherer Rechtsanspruch“ bestanden habe. Was genau darunter zu verstehen sei, lässt das Gericht offen.
Die Unterschiede in der Rechtsauffassung sind fundamental:
OVG Münster:
- Fokus auf den formalen Zeitpunkt der Bewilligung
- Keine Berücksichtigung rechtswidriger Behördenentscheidungen
- Fristablauf führt zum Verlust berechtigter Ansprüche
- Formalistisches Verständnis des EU-Beihilferechts
EuGH:
- Fokus auf den materiellen Zeitpunkt des Anspruchserwerbs
- Schutz vor rechtswidrigem Behördenhandeln
- Effektiver Rechtsschutz hat Vorrang vor Fristen
- Grundrechtskonformes Verständnis des EU-Beihilferechts
Praktische Konsequenzen für die Überbrückungshilfe
Die Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die deutsche Praxis sind erheblich:
Für laufende Verfahren
Unternehmen, die noch auf die Bewilligung ihrer Überbrückungshilfe IV klagen, können sich unmittelbar auf das EuGH-Urteil berufen. Wurde ihr Antrag zu Unrecht abgelehnt, gilt die Beihilfe als zum Zeitpunkt der Ablehnung gewährt – unabhängig davon, dass die EU-Genehmigung mittlerweile ausgelaufen ist.
Für drohende Rückforderungen
Sollten Bewilligungsstellen aufgrund des OVG-Beschlusses Rückforderungen erwägen, haben betroffene Unternehmen mit dem EuGH-Urteil ein starkes Verteidigungsmittel. Die höchstrichterliche europäische Rechtsprechung geht nationalem Recht vor.
Für die Bewilligungspraxis
Bewilligungsstellen, die nach dem 30.6.2022 noch Überbrückungshilfen ausgezahlt haben, haben nach der EuGH-Rechtsprechung unseres Erachtens korrekt gehandelt. Eine Rückforderungswelle, wie sie der OVG-Beschluss befürchten ließ, ist damit vom Tisch.
Fazit und Ausblick
EuGH-Urteil vom 3.7.2025 ist ein Musterbeispiel dafür, wie europäisches Recht nationale Fehlentwicklungen korrigiert. Während das OVG Münster eine formalistische, unternehmerfeindliche Linie vertritt, stellt der EuGH den effektiven Rechtsschutz und die Grundrechte in den Mittelpunkt.
Für die Praxis bedeutet dies: Die Befürchtungen, die der OVG-Beschluss ausgelöst hat, sind unbegründet. Unternehmen müssen nicht um rechtmäßig erhaltene Überbrückungshilfen fürchten. Laufende Klageverfahren haben weiterhin Aussicht auf Erfolg, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.
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