Die Umsetzung von Deutschlands härtesten Klimagesetz in Hamburg stellt nicht nur den Senat auf die Probe. Denn es offenbart sich, wie direkte Demokratie das Machtgefüge verändert. Entscheidet das Volk automatisch klüger, nur weil es das Volk ist?

Hoch oben am Ende der prächtigen Haupttreppe im Hamburger Rathaus flankieren die Göttinnen der Gnade und der Gerechtigkeit den Eingang ins Senatsgehege, überlebensgroß, aus Marmor geformt. Es ist ein besonderer Ort, den die Regierenden des Stadtstaates stets für wegweisende Verkündungen wählen – wie in dieser Woche, als Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) dort den Ausgang des Zukunftsentscheids kommentierten.

Dass eine Mehrheit der Stimmen für eine zügigere Klimaneutralität der Hafenmetropole votiert, hat Spuren beim Gemütszustand der Politspitze hinterlassen. So fordert das Ergebnis den Senat nicht nur heraus, wenn es um die Umsetzung von Deutschlands nun härtestem Klimagesetz in einem Bundesland geht, etwa beim Verkehr, der Energiesanierung, in Unternehmen. Es ist zugleich ein Ereignis, an dem sich beobachten lässt, ob das Bündnis aus SPD und Grünen an den Folgen der direkten Demokratie zerbricht – oder diese als Chance begreift. Dazu hat WELT AM SONNTAG Experten um ihre Einordnung gebeten.

Die Faktenlage: Der Zukunftsentscheid hat das verfassungsrechtlich vorgegebene Quorum und die Mehrheit der Stimmen erreicht. Nach Paragraf 23 des Volksabstimmungsgesetzes ist damit die Änderung des Klimaschutzgesetzes beschlossen, wonach die Hansestadt 2040 statt 2045 klimaneutral sein muss. Die Wahlbeteiligung lag bei 43,7 Prozent. „Das Ergebnis erleichtert das Regieren für Rot-Grün nicht, weil hier auf Grundlage einer alternativen Legitimation eine Politik durchgesetzt wurde, die der Senat so nicht wollte“, sagt Christian Martin, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Kiel.

Mit alternativer Legitimation meint er: „Wir haben einen Senat, der aus der Bürgerschaftswahl im März 2025 hervorgegangen ist, und nun kommt ein Gesetz quasi ‚von der Seite‘, also nicht aus dem Parlament selbst.“ Die Verfassung sehe das Instrument zwar vor, weshalb es formal korrekt, aber politisch heikel sei.

Zur Erinnerung: Rot-Grün – getragen von 52 Prozent der Wählerstimmen – hatte sich im Koalitionsvertrag auf eine Klimaneutralität bis spätestens 2045 geeinigt. Durch den Volksentscheid wird laut Martin „etwas eingeführt, das nicht dem politischen Willen entspricht, wie er bei der Bürgerschaftswahl zum Ausdruck kam“. Deshalb hält der Professor, der die Kieler Forschungsstelle für Landes- und Kommunalpolitik leitet, Volksentscheide in einer repräsentativen Demokratie für problematisch. „Sie laden zur Polarisierung und Manipulation ein, erschweren Kompromisse und bringen eine alternative Legitimation ins Spiel, die das politische Alltagsgeschäft stört.“

Er fügt hinzu: „Stellen Sie sich vor, wir hätten über Zuwanderung abgestimmt, wie in der Schweiz. Da wird klar, dass das Volk nicht automatisch klüger entscheidet, nur weil es das Volk ist.“ Dass gewählte Abgeordnete aber nicht immer das umsetzen, was der Souverän möchte, sei das Wesen unseres Systems. Martin: „Der Kanzler hat kürzlich gesagt, dass das deutsche politische System auf Kompromiss basiere.“ Volksentscheide seien dabei eher hinderlich, sagt Martin. Sie bildeten die Komplexität politischer Prozesse nicht ab, „stattdessen zwingen sie zur Entscheidung: dafür oder dagegen“. 

„Demokratie heißt: Eine Mehrheit entscheidet“

Ein Standpunkt, dem der Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie an der Helmut-Schmidt-Universität, Gary Schaal, widerspricht. Für ihn ist der Hamburger Zukunftsentscheid – unabhängig von der inhaltlichen Position – ein Musterbeispiel gelungener Volksgesetzgebung: „In Deutschland gibt es eine Tendenz zu glauben, dass grundlegende Entscheidungen immer eine breite Mehrheit brauchen.“ Daher komme die Vorstellung, dass Große Koalitionen in Krisen die Lösung seien. „Aber das ist kein demokratisches Prinzip. Demokratie heißt: Eine Mehrheit entscheidet – nicht unbedingt eine große“, betont Schaal.

Was die Bundesrepublik bewahren müsste, sei das Vertrauen in die Integrität des demokratischen Prozesses – also in die Qualität der Debatten und die Substanz der Gesetzesvorlagen. „Wenn wir anfangen, die Legitimität einzelner Entscheidungen infrage zu stellen, stellen wir den gesamten demokratischen Prozess infrage.“ Schaal gibt zu bedenken, wie viele inhaltliche Alternativen die Bürger bei Landtags- oder Bundestagswahlen hätten – und antwortet: „Man stimmt über ein Programm ab, das Innen-, Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik umfasst. Differenziert ist das nicht, man kauft ein Gesamtpaket.“ Im Gegensatz dazu erlaube ein Volksentscheid eine konkrete Entscheidung über einen spezifischen Gesetzentwurf. „Aus demokratietheoretischer Sicht ist das ein Ideal: Das Volk regiert sich selbst.“

Nicht zuletzt verweisen diverse Beobachter im Fall des Hamburger Klimagesetzes darauf, dass selbst der überarbeitete Gesetzentwurf der Initiative Schlupflöcher enthält. Es gibt keine echten Sanktionen, falls der Senat die Ziele reißt. Eine Formulierung lautet, dass Hamburg nicht haftbar gemacht werden kann, wenn die Umsetzung an fehlenden Bundesvorgaben scheitert. Demnach kann sich Rot-Grün jederzeit auf übergeordnete Ebenen wie den Bund oder die EU berufen, um Verzögerungen zu rechtfertigen. Vermutlich wird genau das in Hamburg passieren.

Vor diesem Hintergrund könnte der Senat dem Auftrag des Volkes nach einer schnelleren Klimaneutralität gelassen entgegenblicken. Dabei erwartet der Kieler Wissenschaftler Martin mehr Zerwürfnisse bei den Grünen, die zwischen ihren Regierungsvertretern und einer Basis stehen, die mehrheitlich für den Volksentscheid gestimmt hat. Und die Sozialdemokraten? In einer Stadt, die als SPD-Hochburg gilt, könne sich die Partei zurücklehnen, sie werde sich „bei der Umsetzung der Klimaziele – insbesondere bei der sozialen Verträglichkeit –  als Anwältin des ‚kleinen Mannes‘ positionieren“, sagt Martin. 

Der Politikberater Martin Fuchs schätzt die Auswirkungen auf die Bündnispartner anders ein. „Der Volksentscheid hat das Klimathema wieder ins Zentrum gerückt – und das wird den Grünen helfen. Es stärkt ihre Position in der Koalition“, betont Fuchs. Die SPD indes müsste den Auftrag der Klimaneutralität schon bis 2040 umsetzen, sozial gerecht zudem. Fuchs: „Das entspricht ihrem Profil, aber es wird nicht leicht, denn die Grünen werden Druck machen.“ Insgesamt jedoch sehen die Experten den Fortbestand der Koalition nicht in Gefahr. Denn vergessen wird bei der Debatte oftmals, dass SPD, Grüne und ein Großteil der Hamburger Bürger das Ziel der Klimaneutralität befürworten, strittig ist lediglich das Tempo.

„Die Bevölkerung zeigt sich in Bezug auf die Maßnahmen strenger gegenüber sich selbst, als es die Regierung tut“, ordnet Politologe Schaal ein. Das sei keine klassische Ohrfeige, wie Kritiker es deuteten, sondern eine Aufforderung, einen ohnehin schmerzhaften Weg rascher zu gehen. Der Professor für Politikwissenschaft erklärt: „Aus demokratietheoretischer Sicht ist das außergewöhnlich: Eine Entscheidung, die weit in die Zukunft reicht und gleichzeitig die Handlungsspielräume einschränkt. Das ist selten.“ 

Dass Hamburg bei der Klimaneutralität jetzt schneller handeln muss, „ist eine Herausforderung, aber keine Kehrtwende“, ergänzt Fuchs und sieht darin „eine große Chance“. Hamburg könne sich weltweit als Klimahauptstadt positionieren, gezielt Greentech- und Fintech-Unternehmen anlocken und zeigen, wie man Klimapolitik effizient umsetze. „Das bietet Potenzial für Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum und Strahlkraft, weil viele Megastädte vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen“, so Fuchs, der aktuell weder den Senat noch die Opposition berät. Für letztere sehen Beobachter trotz der Anstrengungen durch den Volksentscheid wenig Raum, politisch Kapital daraus zu schlagen.

Die CDU erreichte bei der Bürgerschaftswahl 19,8 Prozent, die Linke 11,2 und die AfD 7,5. Beim Thema Klima argumentiert etwa die CDU laut Fuchs „gegen die Mehrheit der Stadtbevölkerung“. Der Politikberater glaubt, dass die Christdemokraten bei ihrer Wählerklientel in den Außenbezirken die Skepsis gegenüber dem Entscheid aufgreifen und sich als Stimme der „normalen Bürger“ inszenieren werden – im Kontrast zu dem, was sie „linksgrüne Innenstadtpolitik“ nennen. „Aber: Wenn sie sich einzig auf diese Strategie stützt, riskiert die CDU eine Verschärfung der Polarisierung.“

Könnte die Bürgerschaft das Klimagesetz wieder kippen?

So treibt viele Menschen in Hamburg tatsächlich die Sorge um, dass der Zukunftsentscheid die Stadt spaltet, zwischen Klimabewegung und Wirtschaftsinteressen. Es wird sogar hinterfragt, ob die Bürgerschaft das gerade verschärfte Klimagesetz wieder kippen könnte? Laut Verfassung könnte das Landesparlament dies gemäß Paragraf 50 jederzeit anstoßen. Aber wenn die Bürgerschaft ein Änderungsgesetz verabschieden will, greift eine Regelung, nach der das Gesetz für drei Monate nicht in Kraft tritt. Währenddessen haben die Initiatoren des Volksentscheids die Möglichkeit, Unterschriften dagegen zu sammeln. Dafür benötigen sie 2,5 Prozent der Wahlberechtigten – das wären 32.500 Menschen bei rund 1,3 Millionen Wahlberechtigten.

Gelingt dies, wird das Änderungsgesetz – mit dem der Volksentscheid rückgängig gemacht werden soll – erneut dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Erst dann entscheiden die Menschen, ob das Änderungsgesetz in Kraft tritt. Die Bürgerschaft kann ein – durch einen Volksentscheid beschlossenes – Gesetz also nur mit Zustimmung des Wahlvolks kippen. 

Um eine Polarisierung in der Gesellschaft zu vermeiden, empfehlen die Experten dem Senat auf dem Weg zur Klimaneutralität eine ausgewogene Moderation, die sich nicht von alarmistischen Stimmen treiben lässt. Aus Sicht des Politikberaters Fuchs sollten der Senat und die Unterstützer des Volksentscheids für das Vorhaben werben und es erklären, mit transparenter Kommunikation, offenen Diskussionen und konkreten Angeboten zur Beteiligung. Der Kieler Professor Martin fordert überdies ein positives Narrativ, „Hamburg als Vorreiter, als Stadt, die verstanden hat, was nötig ist“. Obwohl die Maßnahmen global gesehen kaum Einfluss hätten, könne die Stadt eine symbolische Rolle einnehmen.