Angesichts von Kriegen und autoritären Regimen stehen Menschenrechte unter Druck. Europa muss gerade jetzt zusammenhalten, so Angelika Nußberger. Sie wirft einen Blick zurück auf 75 Jahre EMRK und reflektiert über die künftige Entwicklung.
Wenn am 4. November 2025 der fünfundsiebzigste Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gefeiert wird, wird in den Festreden nicht nur des großen Erfolgs der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gedacht werden. Auch die aktuelle Gefährdung der Menschenrechte in Europa wird Thema sein. Menschenrechte werden von vielen nicht mehr als vereinende Klammer, sondern als polarisierend wahrgenommen, insbesondere wenn es um Reizthemen wie „Migration“, „Klimaschutz“ und „Genderpolitik“ geht. Populistisches Gedankengut, das den Schutz von Minderheiten für nachgeordnet und unwichtig erachtet, stellt die grundlegenden Prämissen des Menschenrechtsschutzes in Frage. In kriegerischen Auseinandersetzungen, vor allem im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Und einzelne Mitgliedstaaten der Konvention entwickeln sich zu autoritären Regimen; für sie ist es kein Tabu mehr, offen gegen den Gerichtshof zu agieren.
Der 1959 zur Durchsetzung der EMRK gegründete Straßburger Gerichtshof ist aber kein Sonnenscheingericht, sondern ein Gericht, dessen Stimme gerade dann Gehör finden soll, wenn es um die Menschenrechte, wie in der Gegenwart, schlecht bestellt ist.
Sein Weg durch das zwanzigste und das erste Viertel des einundzwanzigsten Jahrhunderts erweist sich im Rückblick als sehr erfolgreich, war aber nicht immer einfach. Über lange Zeit war ungewiss, ob er die an ihn gesetzten Erwartungen einlösen und über die EMRK einen effektiven Menschenrechtsschutz in Europa durchsetzen könnte.
Schrittweise Kodifikation der Menschenrechte
Der ursprünglich sehr knappe Text der EMRK stellte einen Kompromiss dar zwischen jenen, die ein möglichst effektives Schutzinstrument schaffen und Menschenrechte umfassend kodifizieren wollten, und jenen, für die die Wahrung der nationalen Souveränität Priorität hatte.
In dem Text der Konvention, der 1953 für zehn Staaten in Kraft trat, war noch nicht einmal das Eigentumsrecht enthalten. Anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurden auch besonders strittige Rechte wie ein „Recht auf eine Staatsangehörigkeit“ und ein „Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“, ausgeklammert. Auch wenn der inhaltliche Schutzumfang der Konvention mit nachfolgenden Protokollen erweitert und geändert wurde, so blieben doch im Text Leerstellen, die in späteren Jahren nicht durch die Vertragsparteien, sondern durch das case law des Gerichtshofs gefüllt wurden.
Experimenteller Beginn der Arbeit des EGMR
Der Beginn der Arbeit des Gerichtshofs in den 50er Jahren war experimentell. Ihm war eine Kommission vorgeschaltet, die als Filterinstanz fungierte. Einen unmittelbaren Zugang aller wollte man nicht ermöglichen. Auch bedeutete die Ratifikation der Konvention nicht, Individualbeschwerden zuzulassen und die Entscheidungsbefugnis des Gerichtshofs anzuerkennen; dafür waren gesonderte Erklärungen notwendig: Schritte, die Staaten wie Großbritannien und Frankreich erst Jahrzehnte später vollzogen. Deutschland war zwar bei der Ausarbeitung der Konvention nicht einbezogen worden, unterwarf sich aber dennoch als einer der ersten Staaten vollumfänglich dem Menschenrechtsschutzregime – nicht zuletzt, um dem Versprechen des „Nie wieder“ zu einer menschenrechtsverachtenden Politik Nachdruck zu verleihen.
Der Straßburger Gerichtshof operierte zunächst im Windschatten des politischen Geschehens und war bis in die achtziger Jahre nur wenigen Spezialisten bekannt. Dabei hat er nach einer langsamen Anlaufphase, in der er kaum mehr als ein Urteil pro Jahr gefällt hat, Wichtiges entschieden – so etwa zur Konventionswidrigkeit der Prügelstrafe. Diese erklärte er – althergebrachten Traditionen („eine Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet“) zum Trotz – zur „unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und Strafe“.
Aufsehen erregte gleichermaßen das Urteil zum Verbot der Ungleichbehandlung von ehelichen und nicht-ehelichen Kindern. Diese war in vielen Rechtssystemen europäischer Staaten noch in den siebziger und achtziger Jahren so tief verankert, dass es lange dauerte, bis alle entsprechenden Regeln aufgehoben waren. Zu Deutschland fällte der Gerichtshof in diesem Zusammenhang noch im Jahr 2017 zwei Urteile, die nicht zu rechtfertigende Übergangsvorschriften im Erbrecht betrafen.
Nach dem Kalten Krieg nahm Bedeutung der EMRK zu
Spätestens mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Fall der Mauer trat der Gerichtshof und mit ihm das Konventionssystem in das Scheinwerferlicht der europäischen Politik. Die EMRK gab Orientierung für die Reform des sozialistischen Rechts und beeinflusste die Gesetzgebung der mittel- und osteuropäischen Staaten in allen Rechtsbereichen. In die Verfassungen wurden der EMRK entsprechende Grundrechtsverbürgungen aufgenommen, im Straf- und Zivilprozessrecht die Maxime des „fairen Verfahrens“ umgesetzt, im Straf- und Strafvollstreckungsrecht die bis dahin wenig beachteten Rechte des Individuums in den Mittelpunkt gestellt.
Für die Länder, die der Europäischen Union beitreten wollten, war in den neunziger Jahren ein Beitritt zur Konvention der erste Schritt. Der Zeitgeist der neunziger und frühen 2000er Jahre bewirkte, dass sich alle europäischen Staaten – einschließlich Russlands – dem Konventionssystem anschlossen.
Damit waren grundlegende Reformen gefordert. Aus dem aus Kommission und Gerichtshof bestehenden System wurde ein einheitliches System mit einem ständigen Gerichtshof geschaffen. Dessen Tore standen offen für all jene, deren Menschenrechte verletzt waren und die vor den Gerichten ihrer Heimatstaaten vergebens Abhilfe zu bekommen versucht hatten. Der Gerichtshof war erfolgreich dabei, Antworten auf eine Vielzahl verschiedener, die Menschenrechte berührender gesellschaftlicher Fragen zu geben – angefangen von den Rechten Strafgefangener auf eine adäquate Unterbringung im Gefängnis bis hin zu den Rechten von Politikern, denen das passive Wahlrecht aberkannt wurde.
Im Jahr 2007 trat als letzter europäischer Staat Montenegro der Konvention bei, so dass sie mit 47 Mitgliedstaaten – mit Ausnahme von Belarus und dem Vatikanstaat – in ganz Europa zur Anwendung kam. Die Zeit zu Beginn der 21. Jahrhunderts dürfte auch als Höhepunkt der „Karriere“ des Gerichtshofs anzusehen sein. Dass die zu seinem 60. Jahrestag herausgegebene Schrift den Titel „Conscience of Europe“ trug, traf auf allgemeine Zustimmung.
Erfolg und Widerstand
Aber schnell wurde der Gerichtshof Opfer seines eigenen Erfolgs. Im Jahr 2011 waren 160.000 Beschwerden in Straßburg anhängig und es war nicht abzusehen, wie der Gerichtshof sie in einer adäquaten Zeit abarbeiten könnte. Verschiedene Reformen, insbesondere die Einführung von so genannten „single judges“, die unzulässige oder offensichtlich unbegründete Beschwerden abweisen konnten, brachten gewisse Erleichterungen, aber die Arbeitslast des Gerichtshofs verharrte mit 60.000 Beschwerden pro Jahr sehr hoch.
Und auch in dieser Zeit war bereits zu erkennen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Konnte sich noch in den neunziger Jahren der Präsident des Gerichtshofs dessen rühmen, dass alle Urteile umgesetzt wurden, war die Erfolgsquote bei der Durchsetzung der Urteile inzwischen deutlich gesunken. Einzelne Staaten traten dabei besonders negativ in Erscheinung. Diejenigen, aus denen die meisten Beschwerden kamen (die so genannten „high count countries“ wie die Türkei, Russland, die Ukraine und Rumänien), waren auch diejenigen, die die Urteile des Gerichtshofs oftmals nicht oder zumindest nicht vollständig umsetzten.
Zudem regte sich auch „prinzipieller Widerstand“ gegen den Gerichtshof, da er die Bestimmungen der Konvention immer weiter – auch über den Wortlaut hinaus – auslegte und damit auch zu gesellschaftlich besonders umstrittenen Themen judizierte; insbesondere legte er das „Recht auf Achtung des Privatlebens“ so weit aus, dass es alle Aspekte des modernen Lebens umfasste. Bei der Interpretation der Konvention bemühte sich der Gerichtshof einerseits, klare Standards auszuarbeiten und eine europäische öffentliche Ordnung („European public order“) zu schaffen, andererseits aber auf nationale Besonderheiten und auch auf die jeweilige Rechtskultur Rücksicht zu nehmen.
Die argumentativen Instrumente, die er dabei entwickelte, der Ermessensspielraum („margin of appreciation“), der europäische Konsens („European consensus“) und der prozedurale Ansatz, konnten grundsätzlich überzeugen. Und doch kam aus der (Partei)politik zunehmend Widerspruch, insbesondere, wenn sie sich in ihren Freiräumen durch die Vorgaben des Straßburger Gerichtshofs eingeengt sah.
Zusammenhalt Europas
Die Grenzen der Wirksamkeit der Konvention wurden mit dem Ende der Mitgliedschaft Russlands im Europarat sichtbar. Auch wenn es eine logische Konsequenz des mit europäischen Werten unvereinbaren Beginns des russischen Angriffskriegs war, Russland auszuschließen, bedeutete dies doch, dass es für die Menschen in Russland keine Instanz mehr gab, an die sie sich bei Menschenrechtsverletzungen wenden und von der sie effektive Abhilfe erwarten konnten.
Die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Gerichtshofs offenbart ein von neun Regierungschefs unterschriebener Brief, in dem sie die Rechtsprechung zum Thema Migration kritisieren und einen Dialog mit dem Gerichtshof fordern, da die Möglichkeiten des Regierungshandelns zu sehr eingeengt seien. Federführend bei dem Brief waren die italienische und die dänische Regierung. Dies ist ein Misstrauensbeweis, der gerade zur Feierstunde zum 75. Jahrestag des Vertrags zur Unzeit kommt. Denn in einer zunehmend gespaltenen Welt ist es mehr denn je notwendig, dass Europa zusammenhält und zu seinen – in der Rechtsprechung des EGMR zum Ausdruck kommenden – Werten steht und nicht über Einzelfragen streitet.
So ist dem Gerichtshof zu wünschen, dass er, wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft, gerade in Krisenzeiten seine Stärke und Überzeugungskraft beweisen und seine Mission erfolgreich erfüllen und nachhaltig wirken kann. Ein Europa ohne den Straßburger Gerichtshof wäre ein anderes Europa. Es wäre nicht mehr das Europa, das versucht hat, aus den Fehlern der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu lernen und einen neuen Aufbruch zu wagen.
Prof. Dr. Angelika Nußberger ist Inhaberin des Lehrstuhls für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Köln. Von 2011 bis Ende 2019 war sie Richterin am EGMR, von 2017 bis zum Ende ihrer Amtszeit war sie zudem Vizepräsidentin.
Zitiervorschlag
75 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention:
. In: Legal Tribune Online,
04.11.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/58532 (abgerufen am:
04.11.2025
)
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