Bundesverfassungsgericht: Karlsruhe kippt Triage-Regeln – Spektrum der WissenschaftDirekt zum InhaltBundesverfassungsgericht: Karlsruhe kippt Triage-Regeln

Wer kommt zuerst dran, wenn in einer Notlage nicht genug Intensivbetten da sind? Das Bundesverfassungsgericht hat gesetzliche Regelungen zur sogenannten Triage unter die Lupe genommen.

Ein Krankenhausflur mit mehreren Personen in medizinischer Kleidung, die sich bewegen. Im Vordergrund steht ein leeres Krankenhausbett. Die Umgebung ist hell beleuchtet, und an der Decke hängt eine digitale Uhr. Die Szene vermittelt eine geschäftige, aber geordnete Atmosphäre.

© Wild Awake / stock.adobe.com (Ausschnitt)

Notlagen, in denen sehr viele Menschen gleichzeitig auf medizinische Hilfe angewiesen sind, können Ärztinnen und Ärzte vor schwierige Entscheidungen stellen.

Wenn in einer medizinischen Notlage die Behandlungskapazitäten knapp werden, müssen Ärztinnen und Ärzte die schwierige Entscheidung treffen, wer zuerst behandelt wird. In der Coronapandemie stellte der Bundestag für diese sogenannte Triage neue Regeln im Infektionsschutzgesetz auf. Doch Intensiv- und Notfallmediziner sahen darin einen Konflikt mit ihrem Berufsethos. Am Bundesverfassungsgericht haben sich einige von ihnen erfolgreich gegen die gesetzlichen Vorgaben gewehrt. Der Erste Senat gab zwei entsprechenden Verfassungsbeschwerden statt und erklärte die neuen Regeln für unvereinbar mit dem Grundgesetz und somit nichtig. Sie schränkten die Ärzte und Ärztinnen in ihrer Berufsfreiheit ein, hieß es. Dem Bund fehle die Gesetzgebungskompetenz für diese Regelungen. 

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb »trier«, das »sortieren« oder »aussuchen« bedeutet. Es beschreibt, dass Ärztinnen und Ärzte in bestimmten Situationen entscheiden müssen, in welcher Reihenfolge sie Patienten behandeln. Das spielt eine Rolle etwa bei großen Unglücken mit sehr vielen Verletzten, bei denen die medizinischen Kapazitäten nicht mehr ausreichen, um allen zeitnah zu helfen. Die Triage soll dann helfen, eine kurzfristige Notlage zu überbrücken. In der Coronakrise war das Thema angesichts ausgelasteter Intensivstationen stärker in den Fokus gerückt und warf grundsätzliche Fragen auf.

Noch zu Pandemiezeiten beschloss der Bundestag im Jahr 2022 eine Neuregelung und kam damit einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach. Dieses hatte 2021 festgestellt, dass der Staat die Pflicht habe, Menschen davor zu schützen, wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden. Die Neuregelung legte fest, dass über eine Zuteilung zur Behandlung »nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit« zu entscheiden sei, ausdrücklich nicht aufgrund der Lebenserwartung oder des Grads der Gebrechlichkeit.

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde von Ärztinnen und Ärzten

Eine der beiden Beschwerden gegen diese Regelung war vom Ärzteverband Marburger Bund unterstützt und 2023 von 14 Intensiv- und Notfallmedizinern eingereicht worden. Sie richtete sich unter anderem gegen das im Gesetz geregelte Verbot einer nachträglichen Triage (»ex post«) – also der Entscheidung, die Behandlung eines Patienten mit geringer Überlebenswahrscheinlichkeit abzubrechen, um einen anderen Patienten mit besserer Prognose zu versorgen. Der Marburger Bund kritisierte, den Ärzten und Ärztinnen werde damit die Möglichkeit genommen, in einer Notlage die größtmögliche Zahl an Menschen zu retten. Durch die Triage-Regelungen würden ihnen Entscheidungen aufgezwungen, »die ihrem beruflichen Selbstverständnis an sich widersprechen und sie in eklatante Gewissensnöte bringen«, teilte der Ärzteverband im Jahr 2023 mit.

Das Bundesverfassungsgericht betonte in seiner jetzt gefällten Entscheidung die Berufsfreiheit, die durch das Grundgesetz geschützt ist. Sie gewährleiste, dass Ärztinnen und Ärzte frei von fachlichen Weisungen seien, und schütze – im Rahmen der therapeutischen Verantwortung – auch ihre Entscheidung über das »Ob« und »Wie« einer Behandlung. Der Bund könne sich bei den gesetzlichen Vorschriften nicht auf seine im Grundgesetz verankerte Kompetenz stützen, Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten zu regeln, erklärte das Gericht. Diese Kompetenz gelte nur für solche Maßnahmen, die auf das Eindämmen oder Vorbeugen von Krankheiten abzielen. Die Triage-Regeln betrafen dagegen lediglich die Auswirkungen einer Pandemie, dienten aber nicht der Pandemiebekämpfung.

»Jetzt sind die Länder gefordert«

Im Pandemiefall sei nicht notwendigerweise eine gesamtstaatliche Verteilungsregelung erforderlich, betonte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Dass eine bundeseinheitliche Regelung zweckmäßiger sein könne als Regelungen auf Länderebene, genüge für die Annahme einer Kompetenz nicht. Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes seien die Länder maßgeblich für diskriminierungssensible Verteilungsregeln verantwortlich.

»Das Urteil klärt Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern – nicht aber, ob und wie in Extremsituationen medizinisch entschieden oder gehandelt werden soll«, kommentierte der Gesundheitsexperte Janosch Dahmen von den Grünen. »Jetzt sind die Länder gefordert, diskriminierungssichere und zugleich praxistaugliche Regelungen zu schaffen, die Rechtssicherheit und ärztliches Ethos miteinander verbinden.« Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz betonte, auch nach der Entscheidung würden der Berufsfreiheit der Ärzte Grenzen gesetzt. »Die Verfassung verbietet weiterhin, dass Alter, Pflegebedürftigkeit und Behinderung allein für die Aufnahme und den Abbruch einer Behandlung maßgeblich sind.«

»Klarheit schafft das Urteil in meinen Augen aktuell noch nicht«, sagte der Mediziner Christian Karagiannidis vom Klinikum Köln-Merheim gegenüber dem Science Media Center (SMC). Das Bundesverfassungsgericht habe primär festgestellt, dass die Zuständigkeit nicht beim Bund liege; damit drohe nun ein Flickenteppich von Regelungen der 16 Bundesländer, wenn hier keine einheitliche Regelung getroffen werde. Während der Coronapandemie sei es glücklicherweise durch das Gesetz nie zu schwierigen Triage-Entscheidungen gekommen, unter anderem weil das Divi-Intensivregister(das die intensivmedizinischen Kapazitäten der deutschen Krankenhäuser erfasst, Anm. d. Red.) eine entsprechende Steuerung erlaubt habe. »Ein Real-Time-Kapazitätenregister ist der Schlüssel, um Triage zu verhindern, daher müssen wir es über Europa in Anbetracht möglicher Krisen ausweiten«, sagte Karagiannidis, der das Divi-Intensivregister leitet. (dpa/fs)

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