Rüffel für die Hauptstadt: Die dortige Beamtenbesoldung war über Jahre hinweg verfassungswidrig niedrig. Das Besondere an der Entscheidung: Das BVerfG setzt neue Maßstäbe dafür, wie ein Verstoß gegen das Alimentationsprinzip zu prüfen ist.

Die Besoldungsordnungen A des Landes Berlin verstoßen für die Jahre 2008 bis 2020 mit wenigen Ausnahmen gegen Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz (GG) und waren damit verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden (Beschl. v. 17.09.2025, Az. 2 BvL 20/17, 2 BvL 21/17, 2 BvL 5/18, 2 BvL 6/18, 2 BvL 7/18, 2 BvL 8/18 und 2 BvL 9/18). Die Entscheidung ist wegweisend, weil das Verfassungsgericht darin seine bisherige Rechtsprechung maßgeblich weiterentwickelt.

Zur Vorgeschichte: In mehreren Fällen hatten sowohl das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg als auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mehrere Fälle dem BVerfG vorgelegt. Eine solche Vorlage können die Gerichte gemäß Art. 100 Abs. 1 GG machen, wenn sie Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (in diesen Fällen zur Berliner Besoldung) haben. Es geht um sämtliche A-Besoldungsordnungen des Landes für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2020.

Der Zweite Senat hat nun festgestellt: Rund 95 Prozent der angegriffenen Vorschriften zur Besoldung sind mit dem sogenannten Alimentationsprinzip unvereinbar. Das Alimentationsprinzip gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG). Es verpflichtet den Staat dazu, seinen Beamten sowie deren Familien lebenslang einen Lebensunterhalt zu gewähren, der ihrem Dienstrang und der damit verbundenen Verantwortung angemessen ist.

Der Staat soll seine Beamten dabei nicht ohne Grund angemessen bezahlen: Sinn und Zweck des Alimentationsprinzips ist es nämlich, dass die Beamten unabhängig bleiben und nicht etwa empfänglich für Bestechungen werden. Eine rechtsstaatliche und unparteiische Verwaltung muss sich der Staat nach diesem Prinzip eben etwas kosten lassen.

Neuer Prüfungsaufbau beim Alimentationsprinzip

Ein Verstoß gegen das Alimentationsprinzip liegt vor, wenn eine Besoldung „evident unzureichend“ ist. Mit dieser Entscheidung neu ist, dass der zuständige Zweite Senat des Gerichts einen konkreten Dreischritt vorgibt, wie das zu prüfen ist: Mindestbesoldung, Fortschreibungsprüfung, Ausnahmemöglichkeit.

Als Erstes ist demnach zu prüfen, ob die Besoldung eine gewisse Grenze nicht unterschreitet (Mindestbesoldung). Grundsätzlich komme dem Gesetzgeber bei der Festsetzung der Besoldungshöhe ein weiter Entscheidungsspielraum zu, betont der Senat in seiner Entscheidung vom Mittwoch. Die Besoldung müsse aber in jedem Falle so hoch sein, dass sie einen hinreichenden Abstand zu einem den Beamten und seine Familie treffenden realen Armutsrisiko sicherstellt, so das BVerfG. Nach Erkenntnissen der Armutsforschung sei dies nur der Fall, wenn das Einkommen die sogenannte Prekaritätsschwelle von 80 Prozent des Median-Äquivalenzeinkommens erreicht.

Das ist neben der neuen Dreischrittprüfung eine weitere große Neuerung, denn bisher richtete sich die absolute Untergrenze für die Besoldung immer nach dem Grundsicherungsniveau, auf das einige Prozentpunkte Sicherheitsabstand draufgeschlagen wurden. Statt des Grundsicherungsniveaus (2024: 563 Euro netto Regelbedarf pro Monat für Alleinstehende; Kosten für Unterkunft, Heizung, etc. nicht eingerechnet) inklusive des Sicherheitsabstands sind nun 80 Prozent des Median-Äquivaleneinkommens (2024: rund 2.300 Euro netto für Single-Haushalte, davon 80 Prozent: 1840 Euro netto) ausschlaggebend als Berechnungsgrundlage.

Mit dieser BVerfG-Entscheidung stehen zwei Dinge fest. Erstens: Die Schwelle, ab der eine Besoldung gerade noch verfassungsgemäß ist, steigt erheblich. Zweitens: Erreicht die unterste Besoldungsstufe nicht die 80-Prozent-Grenze des Median-Äquivaleneinkommens, ist die juristische Prüfung an dieser Stelle sofort beendet und es liegt immer ein Verstoß gegen das Alimentationsprinzip vor.

Das Verfassungsgericht begründet diese neue Berechnungsgrundlage wie folgt: Würde man die Mindestbesoldung weiterhin anhand des Grundsicherungsniveaus berechnen, werde damit nicht zum Ausdruck gebracht, „dass die Alimentation des Beamten und seiner Familie etwas qualitativ anderes ist als staatliche Hilfe zur Erhaltung eines Mindestmaßes sozialer Sicherung.“

Beamtenbesoldung muss mit allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen mithalten

Als zweiten Schritt gibt das BVerfG eine Fortschreibungsprüfung vor. Hiernach sei zu messen, ob die Beamtenbesoldung „fortlaufend an die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards angepasst wird.“ Diese Fortschreibungsprüfung ist wiederum zweistufig: Es ist die wirtschaftliche Entwicklung zu berücksichtigen, danach erfolgt eine wertende Gesamtschau.

Die Besoldungsentwicklung sei dabei anhand der Entwicklung von drei volkswirtschaftlichen Vergleichsgrößen (Tariflohnindex, Nominallohnindex, Verbraucherpreisindex) zu prüfen. Ein „Indiz für eine evidente Missachtung des Alimentationsprinzips“ sei eine deutliche Abweichung von einer der drei genannten Vergleichsgrößen von mindestens fünf Prozent, so das BVerfG.

Es komme aber nicht ausschließlich darauf an, ob die Beamtenbesoldung mit den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen mithält. Selbst wenn das der Fall ist, seien die Berechnungen „stets mit weiteren alimentationsrelevanten Kriterien im Rahmen einer wertenden Betrachtung zusammenzuführen“, so das BVerfG. Es baut damit sozusagen einen Sicherungsmechanismus ein: Der Dienstherr kann sich nicht darauf berufen, die Beamtenbesoldung regelmäßig angepasst zu haben, wenn in der Gesamtschau Gründe dagegen sprechen, dass sich die Besoldung doch nicht passend zu den wirtschaftlichen Verhältnissen entwickelt hat.

Wichtig ist: Diese Fortschreibungsprüfung ist vom ersten Prüfungsschritt (Mindestbesoldung) klar getrennt. Das heißt, dass beide Merkmale, also Mindestbesoldung und regelmäßige Anpassung an die wirtschaftlichen Verhältnisse (Fortschreibung), erfüllt sein müssen. Sind eines oder beide nicht erfüllt, ist laut dem BVerfG bereits von einem Verstoß gegen das Alimentationsprinzip auszugehen.

Auf der dritten und letzten Prüfungsebene ist laut BVerfG zu überlegen, ob ein Verstoß gegen das Alimentationsprinzip ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein könnte. Dies könne bei Kollision mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen oder Instituten zu bejahen sein. Dann gilt, was Jurastudenten in der Grundrechtevorlesung durchexerzieren: Im Wege der praktischen Konkordanz seien die Interessen im Rahmen der Abwägung zu einem schonenden Ausgleich zu bringen, so das BVerfG.

Ergebnis: „Vollständiger Ausfall der Gestaltungsverantwortung“ in Berlin

Anhand dieses neuen, dreistufigen Prüfungsaufbaus gelangt das BVerfG für Berlin zu einem vernichtenden Ergebnis: Der ganz überwiegende Teil der Berliner A-Besoldung von 2008 bis 2020 verstößt bereits gegen das Gebot der Mindestbesoldung (Prüfungsschritt eins).

Das war es aber noch nicht. Das Verfassungsgericht spricht zusätzlich von einem „vollständigen Ausfall der Gestaltungsverantwortung“, weil Berlin als Bundesland seine „Pflicht zur kontinuierlichen Fortschreibung der Besoldung in zahlreichen Besoldungsgruppen und Jahren evident verletzt“ habe (Prüfungsschritt zwei).

Das von Berlin angeführte Argument, dass die Haushaltslage des Bundeslandes angespannt ist und deswegen zu wenig Geld da sei, könne den Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation nicht einschränken, stellt der Senat klar (Prüfungsschritt drei).

Damit hat das Bundesland Berlin nach der Entscheidung nun gut eineinhalb Jahre (bis 31. März 2027) Zeit, um verfassungskonforme Regelungen zu treffen. Bereits 2020 hatte das BVerfG auch die Richterbesoldung in Berlin für verfassungswidrig niedrig erklärt.

Es wird wohl Nachzahlungen geben – doch in welcher Höhe?

Am Ende der ausführlichen Entscheidung weist der Senat vergleichsweise knapp auf einen Punkt hin, der in der Praxis viele interessieren wird: Was ist mit möglichen Nachzahlungen für die Berliner A-Beamten?

Dazu das BVerfG: Eine „rückwirkende Behebung“ sei „nur hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren und hinsichtlich derjenigen Beamten erforderlich, über deren Anspruch noch nicht abschließend entschieden worden ist“. Das heißt aber nicht, dass sich nur solche A‑Beamte Hoffnung machen, die selbst geklagt haben. Das BVerfG betont: „Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein förmliches Widerspruchs- oder Klageverfahren schwebt; entscheidend ist, dass sich die Beamten zeitnah gegen die Höhe ihrer Besoldung mit den statthaften Rechtsbehelfen gewehrt haben. Dadurch kann dem Haushaltsgesetzgeber nicht unklar geblieben sein, in wie vielen Fällen es möglicherweise zu Nachzahlungen kommen wird“.

Nach diesem wegweisenden BVerfG-Beschluss melden natürgemäß viele Berufs- und Interessenverbände Ansprüche an. Die Gewerkschaft der Polizei Berlin etwa fordert, dass die Beträge aus den in Streit stehenden Jahren nun umgehend nachgezahlt und für die Folgejahre die Grundlagen für eine amtsangemessene Alimentation geschaffen werden, erklärt Landeschef Stephan Weg. „Als Beamtinnen und Beamte verpflichten wir uns der stetigen Abrufbarkeit unseres Dienstherrn, der sich 24/7 auf uns verlassen kann. Wir müssen darauf vertrauen können, dass er sich an Gesetze hält und seiner Verantwortung gerecht wird.“

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Berlin-Brandenburg meldete sich bereits zu Wort. Er fordert nach der Entscheidung ein umfassendes Nachzahlungsgesetz für die vergangenen Jahre, damit auch die Beamten, die sich nicht gegen ihre Besoldung gewehrt haben, von den BVerfG-Entscheidungen profitieren können. „Auf das Land Berlin kommen jetzt Nachforderungen in Millionenhöhe zu“, sagt die Vorsitzende Katja Karger. „Der DGB und die Gewerkschaften haben jahrelang auf dieses Zahlungsrisiko hingewiesen und gefordert, dass das Land ausreichend Vorsorge treffen muss.“

Richterbund: Entscheidung könnte Auswirkungen auf Besoldung für Richter und Staatsanwälte haben

In den Fällen ging es zwar um die Berliner A-Besoldung, die für Richter und Staatsanwälte geltende R-Besoldung könnte aufgrund der neuen Vorgaben aber ebenfalls steigen, glaubt Dr. Stephan Kirschnick. Er ist Co-Vorsitzender des Brandenburger Ablegers des Deutschen Richterbundes (DRB) und prognostiziert gegenüber LTO: „Es ist davon auszugehen, dass durch diese nachhaltige Erschütterung des Besoldungsgefüges auch die R-Besoldung der Richter und Staatsanwälte sich als nicht verfassungsgemäß erweisen wird, nicht nur in Berlin, sondern auch in Brandenburg und anderen Bundesländern.“

Kirschnick erwartet, dass die Bundesländer die neuen Kriterien an ihre Besoldungsregelungen anlegen und von sich aus und für alle Beamten, Richter und Staatsanwälte Korrekturen vornehmen, „ohne dass es derart harsche Kritik braucht.“ Aus seiner Sicht nämlich ist „die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Verantwortlichen in Berlin eine erhebliche Klatsche. Wenn alle Besoldungsgruppen von A9 bis A11 in allen untersuchten Jahren unterhalb der Armutsrisikogrenze liegen, ist das zudem ein gravierender Befund.“

Das Thema Besoldung ist in Karlsruhe trotz dieser wegweisenden Entscheidung noch lange nicht vorbei. Am BVerfG sind zahlreiche ähnliche Richtervorlagen anhängig, etwa aus Bremen und dem Saarland. Und erst vergangene Woche hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht die Besoldung der Beamten, Richter und Staatsanwälte im Land in Karlsruhe zur Prüfung vorgelegt.

mit Material der dpa

Zitiervorschlag

Berlin hat jahrelang zu schlecht bezahlt:

. In: Legal Tribune Online,
19.11.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/58662 (abgerufen am:
19.11.2025
)

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